Das Elixier der Unsterblichkeit
dem Ersten Weltkrieg trafen sie sich ab und zu in Wien. Damals lernte Moricz auch Frombichlers Jugendfreund Adi kennen, der noch einen weiten Weg vor sich hatte, bis er der Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei wurde. Moricz und Adi diskutierten über viele Fragen. Hinter Frombichlers Rücken auch über die Judenfrage. Die wichtigste aller Fragen, Adi zufolge, der gern mit antisemitischen Kommentaren um sich warf, jedoch nie im Beisein von Frombichler. Moricz hingegen hatte durchaus einen Sinn für respektlose Judenwitze. Nachdem Adi einmal etwas grob Abwertendes über Juden gesagt hatte, worüber Moricz lächelte, erhob sich Adi vom Tisch, drückte Moricz’ rechte Hand mit beiden Händen und sagte: »Mein Bruder!«
Moricz und Adi waren zwei kriminelle Köpfe, die sich miteinander wohl fühlten und viele gemeinsame Pläne schmiedeten. Einer davon war, das Familienkleinod der Spinozas an sich zu bringen und an einen deutschen Herzog mit wohlgefüllter Schatzkiste und verheimlichter jüdischer Abstammung zu verkaufen.
Doch Großvater kam ihnen zuvor. Er fand
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unter den Hinterlassenschaften des Vaters und begriff sofort, dass dieses Buch niemals in die Hände seines unzuverlässigen Bruders geraten durfte. Er versteckte das Buch. Moricz war wütend. Er fühlte sich bestohlen. Er meinte, da er schließlich der älteste Sohn sei, gehöre das Buch ihm. Frombichler gab ihm recht. Am meisten enttäuscht war jedoch Adi, der eigene, geheime Pläne hegte. Er wagte nicht, laut zu sagen, dass er dachte: Eines Tages werde ich diesen Juden Nathan Spinoza umbringen, um
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an mich zu reißen. Adi stellte sich vor, das Buch würde seinem Besitzer Macht über die Geheimnisse des Lebens und die letzten Dinge geben.
Bevor ich zu Chiara und Jakob zurückkehre, ist es mir ein Bedürfnis zu sagen, dass derjenige, der historisches Wissen und philosophische Einsicht sucht, von mir enttäuscht werden wird. Ich erhebe auf beides keinen Anspruch. Ich versuche nur, bevor ich selbst sterbe, meine Familie vor der Ewigkeit des Vergessens zu retten. Da meine Zeit knapp ist, habe ich keine Möglichkeit, die Erzählung zu ordnen. Ich notiere meine Erinnerungen in der Reihenfolge, in der sie auftauchen. Ich versichere jedoch, dass ich nichts erdichte, sondern nur wiedergebe, was ich gehört habe.
NEUEN HERAUSFORDERUNGEN ENTGEGEN
Chiara und Jakob mit seiner Familie kamen Anfang Dezember nach Wien. Die letzten beiden Jahre hatten sie in Regensburg beim Fürsten von Thurn und Taxis verbracht, der lange der schönen Kunst des Müßiggangs gehuldigt hatte und wirtschaftlich ins Schleudern geraten war. Jakob hatte die Finanzen des Fürsten in Ordnung gebracht, indem er Teile seines erblichen Generalpostmeisteramts verkaufte, das die Familie seit Jahrhunderten betrieb. Dies war ein weitsichtiger Zug, der die Grundlage für das moderne Postwesen in Europa bildete. Viele Jahre später sollte Jakob dem Fürsten erneut behilflich sein und eine Übereinkunft aushandeln, die beinhaltete, dass der preußische Staat den verbleibenden Teil der Postorganisation von Thurn und Taxis im Austausch gegen weitläufige Ländereien übernahm. So wurde der Fürst zu einem der größten Grundbesitzer Europas und Jakob zu einem anerkannten Finanzgenie.
Familie Spinoza wohnte im Hotel Savoy. Am Frühstückstisch blätterte man in den Zeitungen, doch Chiaras und Jakobs Gedanken waren nicht bei der Frage, die die Wiener Presse beschäftigte. Es hieß, Kaiser Franz Joseph I. und seine Gemahlin Elisabeth, oder Sissi, wie sie genannt wurde, wollten auf eine zweite Hochzeitsreise gehen, dieses Mal nach Korfu, da die Kaiserin begeistert sei von Homers Epos über Odysseus, besonders von dem Gesang, der vom Schiffbruch des unsteten Helden auf dieser Insel handelte.
Chiara und Jakob dachten vor allem daran, dass sie ein paar Tage später Richtung Süden durch ein winterweißes Burgenland reisen sollten. Dort warteten Prinz Rudolf Biederstern und neue Herausforderungen.
AUF DEM GUT
Seit undenklichen Zeiten hatte die Zeit stillgestanden auf Schloss Biederhof. Wer auf dem Gut arbeitete – Köche und Dienerschaft, Wäscherinnen und Bügelfrauen, Näherinnen und Ammen, Küchenmädchen, Förster und Gärtner, Pferdeknechte und Sägewerksarbeiter, Handwerker und Kutscher, Gehilfen und Lehrlinge – war in der Umgebung geboren. Ihre Väter und Mütter hatten der Familie Biederstern seit Generationen
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