Das Elixier der Unsterblichkeit
und es sei undenkbar, ihre Nöte den Kammermädchen anzuvertrauen. Doch sie beide seien ungefähr eines Alters, und es gebe nicht mehr viele in ihrer Generation, die die Kraft hätten, dem unerbittlichen Lauf der Zeit standzuhalten. Deshalb hoffe sie, Chiara werde oft mit ihr den Nachmittagstee einnehmen.
So verschieden sie auch waren, jede erfreute sich an der Gesellschaft der anderen. Bei beiden war die Macht der Erinnerungen groß, und ihre täglichen Gespräche kreisten fast nur um die Vergangenheit. Sie hatten ein langes Leben in einer gewaltsamen und turbulenten Epoche hinter sich, nicht ohne den ihnen zugemessenen Teil an Ungemach.
Eines Tages erzählte Clementina von der großen Bedeutung, die Chiaras Roman für ihren Mann und alle Gleichgesinnten in Wien gehabt habe. Selbstverständlich auch für sie. Heindrich habe geniale Fähigkeiten gehabt, wie sie bei Männern ihres Standes ungewöhnlich waren. Zudem sei er ein Mann der Tat gewesen und habe das Buch ins Deutsche übersetzen lassen. Es sei ein großer Tag gewesen, als Robespierre fiel und die Schreckensherrschaft ein Ende nahm, gestand sie, ein Tag, den alle in wärmster Erinnerung hätten. Jedoch erst durch das Lesen des Romans habe der Schrecken, in dem die Aristokratie seit dem Ausbruch der Französischen Revolution gelebt habe, für sie wirklich seine Kraft verloren.
Sie sagte auch, dass sie gern weitere Werke aus Chiaras Feder gelesen hätte. Sie sah Chiaras hängende Schultern, die zeigten, wie schwer sie es nahm, nicht mehr geschrieben zu haben. Das Leben habe sie in den letzten Jahrzehnten gezwungen, erklärte Chiara, mit anzusehen, wie eine Möglichkeit nach der anderen verloren ging und Versprechen unerfüllt blieben.
Clementina antwortete, selbst dann, wenn das Leben in ihrem Alter nicht mehr wachse, sondern schrumpfe, müsse Chiara versuchen, ihre Memoiren zu schreiben. Sie habe ja nichts zu verlieren. Sie schenkte Chiara ein zärtliches Lächeln und sagte: »Sie müssen sich zusammenreißen und ein neues Buch schreiben, das wir verschlingen können.«
In derselben Nacht konnte man die Lampe in Chiaras Zimmer bis in die frühen Morgenstunden brennen sehen.
DER ALLTAG AUF BIEDERHOF
Jakob brannte vor Eifer, die Menschen auf Biederhof kennenzulernen, und verbrachte die ersten Tage damit, alle zu begrüßen, herauszufinden, was ihr Arbeitsbereich war und wie die Mitglieder der Familie hießen.
Er machte allen klar, was er erwartete und erhoffte. Die Arbeiter waren unsicher und wussten nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollten. Sein Interesse und seine Offenheit überraschte viele, denn sie hatten ein unbemerktes Leben gelebt und waren es nicht gewöhnt, von ihren Vorgesetzten mit Respekt behandelt zu werden. Die meisten wussten nicht recht, was sie davon halten sollten. Sein herzliches Wesen, seine natürliche Freundlichkeit und das Engagement, das er zeigte, riefen mehr positive Reaktionen hervor als seine Worte. Auch wenn sein Verhalten nicht alle überzeugte. Einige waren und blieben skeptisch. Vielleicht, sagten andere, die sich freier aussprachen, hat uns der großnasige Jude nur ein wenig Freundlichkeit geschenkt, um uns in eine Falle zu locken. Es gab auch nicht wenige, die fürchteten, der dem Anschein nach so milde Verwalter könnte sich eines Tages durchaus in einen wütenden Dämon verwandeln.
Einen Teil der biedersternschen Ländereien verkaufte Jakob an die Besitzer der Nachbargüter, die Prinzen Esterházy und Batthyány, um die Forderungen der Gläubiger zu erfüllen. Es gelang ihm sogar, alle früheren Kreditgeber für die Verluste, die sie durch Rudolfs systematische Misswirtschaft erlitten hatten, schadlos zu halten. Nachdem er seine Berechnungen der Ausgaben und Einnahmen des Gutes mit hartnäckiger Genauigkeit durchgeführt hatte, ging er eine Absprache mit Salomon Rothschild ein, der die Wiener Niederlassung der Bank leitete. Die Gelder einer Hypothekenanleihe investierte er in das Sägewerk, in die Landwirtschaft und in einige kleinere Industriebetriebe, die er auf dem Gut ansiedelte. Er etablierte Kontakte zu den wichtigsten Vertretern der kaufmännischen Mittelschicht der Hauptstadt. Mit seinem einzigartigen Sinn für Wirtschaft und Handel gelang es ihm im Laufe nur weniger Jahre, Biederhof zum Blühen zu bringen.
Im dritten Frühjahr wurde das Gut von einer für das Burgenland ungewöhnlichen Plage heimgesucht. Als Folge des heftigen Frühlingsregens und der Sonnenwärme schlüpften Myriaden von
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