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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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sah es so aus, als würden alle schluchzen und ununterbrochen weinen. Nur Mirjam nicht. Sie war beherrscht, ruhig an der Oberfläche, doch panisch im Inneren. Sie stand allein, still und blass in ihren schwarzen Kleidern, völlig durchnässt, ohne Tränen und Klagerufe. Sie sah ins Grab hinunter, das war alles. Die Menschen warfen sich hinter ihrem Rücken vielsagende Blicke zu. Obwohl die Juden von Chertnow bekannt waren für ihr Mitgefühl, war nicht eine Seele bereit, Mirjam zu trösten. Denn es stand außer Zweifel, dass sie ihren Vater ins Unglück gestürzt hatte und die Verantwortung trug für seinen Tod.
ALLEIN UND AUSGESTOßEN
    Nach dem Tod des Vaters bestimmte Mirjam zum ersten Mal selbst über ihr Schicksal. Sie stand völlig allein da. Überall vermutete sie Feinde und bemerkte hinterhältige Blicke. Sie hatte Angst, Chertnow zu verlassen, doch sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht bleiben. Sie wurde von den Juden ihres Heimatortes verachtet. Sie wurde als Sünderin betrachtet, als schamlose Hure, die ihren Vater in den Tod getrieben hatte. Mirjam fühlte sich in der Seele vergiftet. Sie packte ihr weniges Hab und Gut zusammen und verließ die Stadt, mit Bitterkeit im Herzen.
    Das Glück in Mirjams Leben hatte nur ein paar Stunden gewährt. Genauer gesagt: von halb acht bis halb zwölf Uhr abends am 26. März 1897. In diesen vier Stunden fühlte sie sich lebendig, frei, vollkommen, geliebt. Danach wurde alles furchtbar. Das Leben hatte ihr einen Schlag versetzt, und ihr Dasein brach in Stücke. Sie war schwanger, Jasja war ohne Abschied verschwunden, der Vater hatte sie und ihr ungeborenes Kind verstoßen, dann war er gestorben.
    Schwere Schuld drückte sie nieder. Sie suchte die Fehler bei sich. Sie hatte sich Jasja hingegeben. Der rätselhafte und gefährliche Geschlechtstrieb hatte sie in die Sünde geführt. Sie schwor sich, niemals mehr mit einem Mann zusammen zu sein. Nie mehr würde sie einen Mann in ihre Nähe lassen.
ZWEI VERSIONEN
    Chertnow existiert nicht auf den Karten unserer Zeit. Es gibt zwei Versionen dessen, was geschah.
    In regelkonformen orthodoxen Kreisen im Stadtteil Crown Heights in New York, wo man des Zaddiks Menachem noch immer mit Ehrfurcht gedenkt, wird geltend gemacht, seine Prophezeiung, Chertnow werde im Netz des Satans enden und vom Erdboden verschwinden, sei in Erfüllung gegangen. Denn die Geschlechter, die nicht im Einklang mit dem Gesetz leben, sind dazu verdammt, durch die gerechte Hand des Herrn vernichtet zu werden.
    Die andere Version des Hergangs beruht eher auf historischen Fakten.
    Im Herbst 1942 fuhren zwei Lastwagen mit Männern in dunklen Uniformen auf den großen Platz bei der Synagoge. Die Männer waren Deutsche, Familienväter, zu alt, um an der Front zu dienen, Polizisten des Reservebataillons 101, allesamt Freiwillige, und sie waren für Säuberungsaktionen zuständig. Ihre Geschichte ist nicht schön. Sie trieben die Juden auf dem Platz zusammen. Der Befehlshabende überschlug schnell die Zahl und erkannte, dass es zu zeitraubend wäre, alle zu erschießen. Die Juden wurden in die Synagoge getrieben, die Türen wurden pedantisch verriegelt. Es wurde der Befehl erteilt, Chertnow niederzubrennen. Sechsunddreißig Stunden später erlosch die letzte Flamme. Alles, was übrigblieb, war Asche.
NACH BUDAPEST
    Mirjam war eine schlichte Seele, ein Mensch an der Peripherie des Daseins, unsichtbar für den Weltenlauf. Sie hatte auch eine Geschichte, doch die hinterließ nirgends einen Abdruck. Heute bin ich der einzige, der weiß, dass sie überhaupt auf der Welt war.
    Die Reise nach Budapest war eine fünfzigstündige Wüstenwanderung auf Schienen. Mirjam schlief fast nicht und aß wenig, da das Begräbnis die paar Groschen, die der Vater hinterlassen hatte, verschlungen hatte. Im Zug saß sie zwischen einer Nonne und einem dicken Fähnrich, der vergeblich versuchte, die anderen Passagiere in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sah aus dem Fenster, betrachtete die ländliche Gegend, Wiesen, die Bäume, die im Sonnenschein vorbeizogen. Das Strahlen des Himmels wurde allmählich unerträglich. Die Hitze, die stickige Luft im Zug, die Müdigkeit nach schlaflosen Nächten trübten Blick und Gedanken.
    Sie versuchte, sich das Gesicht der Schwester vorzustellen. Es muss auch einen Ausweg geben für eine, die so vollkommen allein ist wie ich, dachte sie. Sie versprach Gott, dass sie niemals etwas für sich selbst erbitten würde, wenn er sie nur mit heiler Haut zu Rachel

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