Das Elixier der Unsterblichkeit
Charakter. Sie versuchte voller Selbstaufopferung, die Bedürfnisse ihres Mannes und Rachels zu befriedigen. Immer sah man sie kochen, waschen und weinen.
Mirjam bemerkte früh, wie schnell die Mutter alterte. Ihre Haut verlor an Spannkraft, der Körper wurde unförmig, und jeden Monat traten neue Falten in ihrem Gesicht hervor.
Mirjam war sieben Jahre alt, als Hanna an einer Lungenentzündung starb, einer weitverbreiteten Krankheit. Ihr Körper war schwach und ausgelaugt. Deshalb ging alles sehr schnell.
Niemand ahnte, wie verzweifelt Mirjam in den Nächten weinte. In aller Heimlichkeit versuchte sie, die Mutter zurückzuholen, indem sie wieder und wieder das Kaddisch sprach, das Trauergebet für die Verstorbenen.
DER FAHRENDE HÄNDLER
Der Vater, Samuel, war fahrender Händler. Sein Geiz war legendär, ganz Chertnow sprach darüber, und alle lachten hinter seinem Rücken über ihn. Dennoch war er ein respektiertes Mitglied der Gemeinde, konnte er doch die Heilige Schrift zu jeder erdenklichen Gelegenheit zitieren und hatte eine schöne Singstimme. Häufig tat er deshalb Dienst in der Synagoge, als Vertreter des Kantors beim Morgengottesdienst an Sonnabenden.
Nach dem Tod seiner Frau heiratete er nicht wieder, sondern lebte als Witwer und wurde noch geiziger als zuvor. Er kleidete sich wie ein Bettler in einen verschlissenen Kaftan mit einem Strick um den Leib. Das Brot für die Familie buk er aus Baumrinde.
Samuels unberechenbares Temperament erfüllte die Töchter mit Angst. Er war sehr streng und unterließ es nie, die Mädchen auch für das geringste Vergehen zu bestrafen. Mirjam beklagte sich nicht. Wenn der Vater einen Wutanfall bekam, saß sie mit vor Schreck gesenktem Kopf, hörte auf zu essen und verschloss sich völlig. Rachel hingegen wurde mit den Jahren immer widerspenstiger.
Samuel hielt sich streng an die jüdische Glaubenstradition. Die Vorschriften bezüglich des Essens und Trinkens wurden in der Familie unerbittlich eingehalten. Die Tradition roch leicht nach Lavendel und Schimmel.
Mirjam zeigte sich der Frömmigkeit gegenüber gleichgültig. Aus dem fruchtlosen Aufsagen des Kaddischs zog sie den Schluss, Gott sei taub, außerstande, ihr Gebet zu hören. Deshalb konnte die Mutter nicht aus dem Totenreich zurückkehren. Außerdem erinnerte sie sich daran, wie die Mutter mit gebeugtem Rücken am Herd gestanden hatte, zahnlos und viel zu früh gealtert: Welche Freude hatte sie am Judentum gehabt?
Alle in Chertnow wussten, dass Samuels Dasein von einer großen Trauer verdunkelt wurde. Er kam nie darüber hinweg, dass die Lieblingstochter Rachel, gerade erst zur vollen Blüte gekommen, das schönste Mädchen der Stadt und noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, in großer Eile und gegen den Willen des Vaters den entfernten Verwandten eines Nachbarn geheiratet hatte. Mit ihm, einem einfachen jüdischen Schneider aus Budapest, war sie nach Ungarn gezogen. Manche meinten, sie habe den Erstbesten genommen, der ihr über den Weg lief, um dem freudlosen Zuhause zu entkommen.
Dass Rachels Ehe keine Früchte trug, machte Samuel noch niedergeschlagener. Je mehr Zeit verging, desto sehnlicher wünschte er sich Gottes Segen in Gestalt eines Enkelkindes.
Als Mirjam zwanzig wurde, begann der Vater ernsthaft, sich nach einem möglichen Schwiegersohn umzusehen. Doch sie war abweisend. Der eine taugte aus diesem, der andere aus jenem Grund nicht, von einem dritten hieß es, er käme absolut nicht in Frage. Sie verzog den Mund und verjagte alle heiratslustigen Kandidaten.
EIN WUNDER
Eines Tages, bei einer Tanzveranstaltung, die beim Purimball im Gemeindehaus arrangiert wurde, als sie mal wieder Mauerblümchen war, fiel ihr Blick auf einen Mann, der erst einundzwanzig Jahre alt war. Er hieß Jasja Karpilowski, war einen Monat zuvor nach Chertnow gekommen, aus Weißrussland, und wollte weiter nach Amerika reisen. Jasja war groß und blond, hatte ein mageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und hellblauen Augen. Als er sie zum Tanz aufforderte und um die Taille fasste, fühlte sie, wie die Welt unter seiner Berührung versank. Im selben Augenblick war es um sie geschehen. Die Kraft des Lebens brach ihr Inneres auf, und eine Wollust durchströmte sie, für die sie jetzt reif war. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, sie war bereit. In dieser Nacht verlor sie ihre Unschuld und wurde schwanger.
Als das Unglück sich nicht länger verbergen ließ, ging Mirjam zum Vater und bekannte stammelnd ihre Sünde. Sie hoffte,
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