Das Elixier der Unsterblichkeit
er werde die Nachricht mit Freude aufnehmen – dass das Kind in ihrem Leib die Verkörperung des Lebens selbst sei, das endet und neu beginnt bis in alle Ewigkeit. Jasja war zwar verschwunden, doch Mirjam erklärte: »Manchmal geschieht ein Wunder.«
»Wunder«, wiederholte Samuel und starrte sie fassungslos an. Der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, war, sofort zur Synagoge zu laufen und um einen Segen für das ungeborene Kind zu bitten. Dann beschloss er, sich mit Zaddik Menachem zu beraten, dem große Weisheit zugesprochen wurde und der Antworten auf alle Fragen des Leben hatte.
»Wunder«, wiederholte der heilige Mann. Er fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den langen Bart, erhob sich, ging zum Bücherregal, nahm eine kabbalistische Handschrift heraus, schlug sie aufs Geratewohl auf, las einige Zeilen, nickte und verwarf daraufhin energisch die Theorie von einem Wunder.
»Solche Wunder geschehen nicht außerhalb der Ehe«, konstatierte er.
Indem er aus der Thora und anderen heiligen Schriften zitierte und außerdem Beschwörungen sowie mehrere verschiedene Namen Gottes aussprach, machte er Samuel glauben, die Schwangerschaft sei ein Werk des Bösen.
»Du sehnst dich nach Ehre, nach einem Enkelkind, und nun erlebst du Schande, ein uneheliches Kind«, erklärte der Zaddik.
Samuel antwortete, seine Scham sei groß, er wage es kaum, den Frommen und Rechtgläubigen in Chertnow in die Augen zu sehen. »Aber Mirjam ist trotz allem meine Tochter. Was soll ich tun?«
Menachem riet ihm, die Tochter zu verstoßen und den Bankert niemals unter sein Dach zu lassen.
»Ein schwarzes Schaf kann die ganze Welt verderben«, behauptete der Zaddik mit Nachdruck.
SAMUELS ABGANG
Vielleicht waren es die Sonne und die Wärme in diesem heißen Sommer, die auf Samuels Körper einwirkten. Eines Morgens, nachdem er Mirjam klargemacht hatte, dass sie mit dem unehelichen Kind im Bauch so schnell wie möglich das Haus verlassen müsse, klagte er über Schmerzen in der Brust und schaffte es nicht, aus dem Bett aufzustehen. Sein Kopf war glühend heiß und hinter seiner Stirn wirbelten verwirrende Gedanken.
Mirjam mischte Ziegenmilch, Knoblauch und Meerrettich in einer Schale und ließ das Gemisch auf dem Feuer köcheln. Am Morgen servierte sie dem Vater eine Portion auf leeren Magen. Doch er schrie und spuckte und beklagte sich über den furchtbaren Geschmack.
Die Tage vergingen, und Mirjam versuchte es mit anderen Rezepten, doch Samuel weigerte sich, die verschiedenen Aufgüsse zu trinken, und wurde immer schwächer. Sein Bart, der bis zuletzt schwarz gewesen war, wurde weiß und sein Körper schlaff wie ein leerer Sack. Er lag wie leblos in seinem Bett, völlig in der Gewalt der Krankheit. Mirjam kochte Hühnersuppe mit starken Gewürzen, das Lieblingsgericht des Vaters, doch er weigerte sich, davon zu kosten.
Eines Nachmittags warf Samuel Mirjam hasserfüllte Blicke zu, verfluchte sie und überschüttete sie abwechselnd mit Kaskaden von schleimiger Spucke und den gröbsten Unverschämtheiten, die es auf Jiddisch gab. »Niemand entgeht seinem Schicksal«, wiederholte er mehrmals mit immer schwächerer Stimme. Dann redete er wirr und sagte, er sehe den Todesengel im Raum, und der Totengräber stehe mit dem Spaten bereit.
Mirjam war verzweifelt und sehr erschöpft. Seit der Vater krank geworden war, hatte sie rund um die Uhr an seiner Seite gewacht.
In der folgenden Nacht wurde sie von einer unheimlichen Angst erfasst. Zitternd vor Fieber lauschte sie auf das Surren der Fliegen im Raum und auf die Grillen, die im Morgengrauen ihr Spektakel veranstalteten. Als sie bei Tagesanbruch ermattet einschlief, blieb das Herz des Vaters stehen.
Was Mirjam am nächsten Tag bei der Beerdigung erlebte, sollte sie für den Rest ihres Lebens verfolgen. Es waren nicht der Tod des Vaters und die Einsamkeit, die ihr am meisten zusetzten, sondern die Art und Weise, in der die Leute, die sie seit ihrer Geburt kannten, sie plötzlich behandelten.
Obwohl es den ganzen Tag in Strömen regnete, kamen fast alle Chertnower zur Beerdigung des fahrenden Händlers. Menachem hielt eine schonungslose Höllenfeuer- und Bußpredigt. Er forderte die Menschen auf, dem Bösen zu widerstehen, denn sonst werde die Verwirrung in dieser aus den Fugen geratenen Welt überhandnehmen. Er warnte davor, dass die Stadt im Netz des Satans enden und von der Erdoberfläche verschwinden würde. Die Mitglieder der Gemeinde betrachteten ihn ehrerbietig.
Im Regen
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