Das Elixier der Unsterblichkeit
perversen Gelüste hätten sich nicht nur auf Frauen beschränkt. Er soll auch von kleinen Jungen begeistert gewesen sein. In der Garderobe habe man nach seinem Tod – so erfuhren Sasha und ich – hunderte abgehackter Kinderhände gefunden. Dieses bizarre Privatmuseum soll sogar Stalin missfallen haben, denn was die Opfer des Regimes betraf, so meinte der unfehlbare Führer, sollten doch alle Spuren ihres Erdenlebens vernichtet werden.
Normalerweise pflegten die Geschichten meines Großonkels meine Phantasie anzuregen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören. Doch nicht, wenn er von Berija erzählte. Das mit den abgehackten Kinderhänden fand ich unerträglich, und ich war drauf und dran, aus dem Zimmer zu stürmen und mich auf der Toilette zu verstecken.
In der Nacht hatte ich einen Albtraum. Ich war auf unserem angestammten Spielplatz, allein, alle Kinder waren schon nach Hause gegangen. Es war in der Dämmerung. Ein schwarzer Volga bremste und hielt neben mir. Am Steuer saß ein Mann mit runder Brille ohne Bügel. Er lächelte freundlich und versuchte, mich in den Wagen zu locken. Ich wollte ihn abweisen, doch meine Kehle schnürte sich zusammen und ich bekam kein Wort heraus. Da sagte der Mann, mein Bruder Sasha würde in seiner Wohnung auf mich warten, in der Garderobe, wo es einen Haufen Süßigkeiten gebe. Während der Mann sprach, konnte ich sehen, dass er ein Maul hatte, mit dem er ein Kind mit einem Happs verschlucken könnte. Er stieg aus dem Wagen, um mich zu holen. Ich sah, dass er keine Hände hatte. Er breitete die Arme aus und kam näher. Da erwachte ich mit einem Ruck, nass geschwitzt. Ich spürte sowohl Angst als auch Erleichterung. Es war still und dunkel im Zimmer. Sasha und Großmutter schliefen tief. Ich stellte mich ans Fenster und spähte durch einen Spalt in der Gardine nach einem schwarzen Volga. Es war keiner zu sehen.
Der wirkliche Berija war eine kompliziertere und vielschichtigere Person als die, die mein Großonkel uns vermittelt hatte. Das wurde mir klar, nachdem ich Kopelews Buch gelesen hatte. Denn einerseits ließ Berija Millionen von Menschen töten, aus Notwendigkeit – wie er selbst es nannte. Anderseits war es ihm ein Anliegen, das Sowjetsystem zu reformieren. Nach Stalins Tod im März 1953 kritisierte er die Kolchosenwirtschaft, startete teure Projekte, trat dafür ein, die DDR aufzulösen und Deutschland zu vereinigen. Vor allem aber entließ er einen Teil der Gefangenen aus dem Archipel Gulag. Viele von ihnen durften nach Hause. Ihm ist es zu verdanken, dass mein Großonkel freigelassen wurde und nach Ungarn zurückkehren konnte. Doch hundert Tage nach Stalins Tod wurde Berija verhaftet. Man weiß, dass er liquidiert wurde. Die genauen Umstände seines Todes blieben bisher ungeklärt.
Mein Großonkel erzählte auch, dass Berijas Hinrichtung dem Herausgeber der
Großen russischen Enzyklopädie
Probleme bereitet habe. Als die Abonnenten den Band B des Nachschlagewerks bekommen hatten – irgendwann Ende der 1940er Jahre –, lasen sie einen Artikel über Berija, in dem er als großer sowjetischer Held gepriesen wurde. Nach seinem Fall bekamen alle Abonnenten einen Brief vom Verlag mit der Aufforderung, die Seiten über Berija herauszuschneiden und zurückzuschicken. Zum Ausgleich bekamen sie einen Artikel mit Bildern von der Beringstraße.
Die Wirklichkeit übertrifft die Phantasie, sagte mein Großonkel gern. Weiß man, was geschehen ist, braucht man nichts zu erdichten. Außerdem ist es einfacher, einen Lügner einzuholen als einen lahmen Hund.
DIE LIEBE IST DIE ZUKUNFT
Als das heimliche Liebespaar Ariadne und Bernhard bemerkte, dass Ariadne schwanger war, wurde alles in ihrem jungen Leben auf den Kopf gestellt. Sie hatten Angst vor den Konsequenzen und fürchteten, man werde sie voneinander trennen. Es war ihre erste Verliebtheit. Das Schönste, was sie jemals erlebt hatten. Die Liebe forderte, dass sie nach vorn blickten, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Die Liebe, konstatierte Bernhard, sei die Feindin der Tradition, sie stehe auf der Seite der Zukunft. Die Liebe ist die Zukunft, sagte Ariadne. Die Liebe überwindet alles, sagte Bernhard.
In jener Nacht beschlossen sie, aus Biederhof zu fliehen.
Warum die blinde Ariadne und Bernhard nach Ungarn gingen, ist ein Rätsel. Nicht einmal mein Großonkel kannte die Antwort. Einmal behauptete er, der Grund sei, dass Ariadne unangenehme Erinnerungen an ihre Kindheit in Wien hatte. Das nächste Mal glaubte er,
Weitere Kostenlose Bücher