Das Elixier der Unsterblichkeit
zwischen vier und fünf Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, und er habe Stalin beschuldigt, diese Katastrophe bewusst verursacht zu haben. Einige berichteten, sie hätten ihn sagen hören, Soldaten der Roten Armee hätten über zwei Millionen Frauen vergewaltigt und noch mehr Häuser geplündert.
Nachdem Kopelew die Verhöre mit Hitlers Koch abgeschlossen hatte, wurde er nach Moskau zitiert. Er bekam Bescheid, dass er für seinen Einsatz als Verhörleiter beim Volkskommissariat für Inneres mit dem Roten Stern dritten Grades ausgezeichnet werden solle. Er fühlte sich geehrt und wünschte, seine Eltern könnten ihn sehen. Er ahnte nichts Böses, als er in die Hauptstadt fuhr. Nicht einmal als er von dem allseits gefürchteten Lawrenti Berija empfangen wurde, Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD, der zahllose Männer und Frauen in den Tod geschickt hatte, witterte Kopelew Gefahr. Als er die Hand zur Begrüßung ausstreckte, legte ihm Berija Handschellen an und betrachtete ihn mit einem Blick voller Verachtung: »Ihre widerliche Anbiederung bei den Nazis ist ein Messerstich in den Rücken der Parteiführung, die Ihnen vertraut hat«, sagte Berija und fügte hinzu: »Sie sind ein Landesverräter. Es wäre ein Vergnügen, Sie am Galgen hängen zu sehen.« Kopelew wurde von zwei Wachen abgeführt. Sie fuhren hinunter ins Erdgeschoss, wo man einen Gerichtssaal eingerichtet hatte.
Erst da erkannte er, wie ernst seine Lage war. Der Prozess dauerte nur fünf Minuten. Ein Mann von der Staatsanwaltschaft las die Anklagen vor. Seine Stimme war so angespannt, dass er Kopelew direkt leid tat. Kopelew meinte, die Anklagen seien lächerlich, und wollte den Vertreter der Staatsanwaltschaft fragen, ob er Beweise vorlegen könne und ob er selbst an das Lügengebräu glaube, das er vorgelesen habe. Doch er kam nicht dazu, etwas zu sagen, bevor der Richter das Wort ergriff und ihn dafür verurteilte, bürgerlichen Humanismus verbreitet und zu großes Mitgefühl mit dem Feind gezeigt zu haben: zehn Jahre Verbannung nach Sibirien. »Sie bekommen viel Zeit zu bereuen«, sagte der Richter. »Was bereuen? Dass ich die Deutschen wie Menschen behandelt habe?«, fragte Kopelew.
Der Richter rümpfte verärgert die Nase und gab den Wachen den Befehl, den Angeklagten abzuführen. Kopelew hatte von frühester Jugend an eine positive Lebenseinstellung, die nicht einmal diese Niederlage, diese massive Ungerechtigkeit und die strenge Strafe völlig verdunkeln konnten. Er war fest entschlossen, sich nicht von Zweifeln an der Unfehlbarkeit der Partei anfechten zu lassen. Vor allem nicht Schwächen anheimzufallen, die er bei den deutschen Gefangenen gesehen und missbilligt hatte. Er wollte die Zeit in Sibirien für etwas Sinnvolles verwenden. Doch er wusste nicht, für was.
In Kolyma landete er in der gleichen Baracke wie mein Großonkel. Die Gefangenen nannten sie »Die vereinten Nationen«, denn hier gab es Männer aus allen Volksgruppen, die östlich der Elbe lebten. Hier hatten alle einen Spitznamen. Kopelew wurde von den anderen Gefangenen Rubin genannt. Weshalb er diesen Namen bekam, ist mir nicht bekannt. Vielleicht wegen seiner immer strahlenden Laune. Vielleicht auch wegen seines harten Kerns, den nichts zu brechen vermochte.
Mein Großonkel erwähnt ihn in der Schrift, die er an die Genealogische Gesellschaft verkauft hat. Dass er über Rubin schrieb, rührte daher, dass er nur mit ihm eine gewandte Konversation auf Deutsch führen konnte, denn es gab sonst niemanden im Lager, der eine so reine deutsche Aussprache und einen so reichen Wortschatz besaß wie der ehemalige Verhörleiter. Sie empfahlen einander Bücher, die zu bekommen sie selbstverständlich keine Möglichkeit hatten. Sie führten leidenschaftliche Gespräche über Heinrich Heines bodenständigen Humor und scharfe, ironische Dichtkunst, vor allem über
Deutschland. Ein Wintermärchen
, das sie beide liebten. Sie diskutierten Antonio Gramscis Gedanken über den Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft. Sie erzählten einander Geschichten, um die Dunkelheit des Lagers aufzuhellen.
Beide wussten, dass Scheherazade – Symbolfigur für den Wunsch des Menschen, das tragische Schicksal zu überlisten – tausendundeine Nacht lang Geschichten erzählte, um ihr Leben zu retten. Sie tauschten Gefühle und Gedanken aus, weil die Mächtigen sie zum Schweigen bringen wollten. Sie waren sich dessen bewusst, dass das Fehlen von Geschichten über das Leben
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