Das Elixier der Unsterblichkeit
und seine Frau ihre Kinder sowie einige wichtige Geschäftsfreunde zu dieser Reise ein. Zehn Suiten wurden in seinem Namen gebucht. Am 15. April wollte er den fünfzehnten Geburtstag seines ältesten Sohnes Adalbert feiern. Nikolaus lud fünfundzwanzig Personen zum Diner mit elf Gängen an Bord der Titanic ein. Die Stimmung war großartig. Man prostete sich mit Cristal zu, Jahrgang 1876, dem Champagner des Zaren Alexander II. Die Gäste aßen und tranken vier Stunden lang und hatten einen schweren Magen nach dem opulenten Mahl. Sie sanken nach der Kollision mit einem Eisberg, die zum Untergang des angeblich unsinkbaren Schiffes führte, wie Steine in das kalte Wasser. Keiner von Nikolaus’ Gästen überlebte. Die Leiche des Gastgebers wurde erst viele Jahre später geborgen. In seiner Jackentasche fand man fünfzig Zehntausenddollarscheine – mit dem Porträt des düster lächelnden amerikanischen Finanzministers Salmon P. Chase sowie eine verblüffend gut erhaltene Übersicht des Elf-Gänge-Menüs.
Claudia heiratete früh. Sie war erst neun Jahre alt, als ihr klar wurde, dass Markus Frombichler und kein anderer ihr Ehemann werden sollte. Sie waren bis auf zwei Wochen genau gleich alt und hatten schon miteinander gespielt, bevor sie laufen konnten. In der Schule saßen sie in derselben Bank. Markus’ Vater war Bauer und Nachbar des biedersternschen Gutes. Als die Familie Spinoza nach Wien zog, versprachen Claudia und Markus einander ewige Treue. Sieben Jahre später reiste er ihr nach in die Hauptstadt. Vor Jakob stand ein junger, stiller, unsicherer und verzagter Freier, dem man kaum vorwerfen konnte, ein Mann von Welt zu sein, und hielt um die Hand seiner einzigen Tochter an. Nur ein Blinder konnte übersehen, wie verliebt die beiden waren. Dennoch riet Jakob Claudia von der Heirat ab. Dass sie auf dem Lande glücklich werden würde, eingeheiratet in eine katholische Familie, unter ungebildeten Bauern, das konnte er sich nicht vorstellen. Außerdem hätte sie konvertieren müssen, doch der jüdische Glaube und die Tradition ließen sich nicht wie ein Paar Handschuhe ersetzen. Die Augen der Mutter füllten sich mit Tränen, und sie murmelte, auf einen Schwiegersohn wie Markus wäre keine jüdische Mutter stolz. Nikolaus sagte voraus, dass das Leben seiner Schwester trostlos enden würde. Claudia entgegnete, freilich sei ihr Markus kein verwöhnter jüdischer Sohn aus reichem Hause mit feinen weißen Händen wie ihre Schlauberger von Brüdern, sondern ein Mann, der es gewohnt sei, zu arbeiten und seine Pflichten zu erfüllen. Doch was sei Anstößiges daran, dass sein Vater ein Bauer sei? Die Frombichlers seien einfache Menschen, irgendwelche Welträtsel hätten sie nie gelöst, sie hätten immer auf ihrem kleinen Fleckchen Erde gelebt, sich um ihre Kinder gekümmert und seien glücklich mit ihrem Los. Und was die Religion angehe, so habe sie noch nie an einen Gott geglaubt. Jude, Katholik – die Liebe sei über so etwas erhaben. Die Frage wurde in der Familie heftig diskutiert, und natürlich war es Jakob, der das Wort führte. Doch keine Überredungskunst half gegen Claudias Argumente. Sie wusste, was sie wollte.
Markus und sie bekamen drei Kinder. Mathäus war der Älteste. Er war ein schwieriges und bösartiges Kind. Mit zehn Jahren versuchte er, eine seiner kleinen Schwestern in einem Brunnen zu ertränken. Zur Strafe schickte man ihn zu einem Vetter des Vaters nach Linz, einem kinderlosen Obergefreiten im kaiserlich-königlichen Heer. Seine Frau, eine Giftkröte von einer Matrone, verabscheute Mathäus sofort. Dass er dem lieblosen Paar nicht davonlief, lag allein daran, dass er in der Schule einen Freund gefunden hatte, Adi, von dem er sich nicht trennen wollte.
Die Schwestern Isidora und Hedda heirateten und wanderten nach Amerika aus. Nach dem Börsencrash 1929 verlieren sich alle Spuren von ihnen. Claudias Ehe war glücklich, und sie wirkte zufrieden mit ihrem Leben als Bauersfrau. Das einzige, was ihr einen Stich ins Herz versetzen konnte, war der Gedanke an die Geschwister. Sie hatten sich von ihr abgewandt, als sie einen Nichtjuden geheiratet hatte. Markus starb 1937 eines natürlichen Todes. Fünf Jahre später wandte sich Karl Schneider, Markus’ bester Freund, Polizeichef im Distrikt, an Claudia und bat sie, in sein Büro zu kommen, um eine kleinere Formalität in ihrer Geburtsurkunde anzuschauen. Sie kam an dem Nachmittag nicht wieder nach Hause. Auch nicht am nächsten Tag. Ihr Leben endete
Weitere Kostenlose Bücher