Das Elixier der Unsterblichkeit
dass Béla Kun nichts mehr zu schätzen wusste als ein Kompliment. »Ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Rede«, hörte er sich selbst sagen. Der Führer lächelte und ließ sich Zeit mit der Antwort, als wartete er auf weiteres Lob. Schließlich sagte er: »Genosse, seien Sie des Siegs der Arbeiterklasse gewiss. Ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, wenn es nötig ist. Viele Bürger und Barone werden noch lange schlecht schlafen, bevor ich mit ihnen fertig bin.« Nathan nickte zustimmend. Aber er war nicht daran interessiert, mit Béla Kun nichtssagende Worte zu wechseln. Er wollte nur in Marikas Nähe kommen, wollte sie sehen und ihre Hand für einen Augenblick in seiner halten. Sie stand neben dem Kommunistenführer. Nathan tat einen Schritt auf sie zu und sah erst jetzt, dass sie schwanger war. Er blickte ihr in die Augen und streckte die Hand aus. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihm um den Hals fallen würde, war aber dennoch ein wenig erstaunt über ihre Reaktion. Sie tat nämlich so, als würde sie ihn nicht kennen. Eine Sekunde lang betrachtete sie ihn mit unruhigem Blick. Doch schließlich drückte sie seine Hand. »Unser Führer«, stotterte sie, »ist fest entschlossen … alles … Unrecht auszumerzen.« »Unrecht, ja«, wiederholte Nathan abwesend. Dann ließ er ihre Hand los, die sich kalt anfühlte, und ging weiter.
NOCH EIN VERRAT
Großvater hatte einen jüngeren Bruder. Ich habe seinen Namen schon erwähnt. Er hieß Kalman. Er starb früh, unter tragischen Umständen. Großvater redete nie von ihm. Als Sasha und ich ihn einmal nach seinem kleinen Bruder fragten, wurde Großvater ärgerlich und erwiderte mit schlecht verhohlenem Widerwillen, er habe keine Lust, in der Vergangenheit zu graben. Wir glaubten, sein Schweigen beruhe darauf, dass Kalman der Liebling des Vaters und maßlos verwöhnt gewesen war und Großvater ihn deshalb nie gemocht hatte. Oder möglicherweise hatte er Kalman satt, stellten wir uns vor, weil er sich ständig anhören musste, es sei seine Pflicht, sich um den unausstehlichen kleinen Bruder zu kümmern, ihn zu schützen und zu verteidigen.
Ein mit dem Buchstaben K unterzeichneter Brief, den ich auch in dem von Großvater geerbten Koffer gefunden habe, vermittelt ein anderes Bild ihrer Beziehung. Hier schreibt Kalman, sie hätten einander immer sehr nahegestanden, und deshalb schmerze ihn der Verrat, dessen er sich Nathan gegenüber schuldig gemacht habe, umso mehr. Der Verrat, gestand er, bestehe darin, dass auch er mit Marika geschlafen habe, obwohl er gewusst habe, wie verliebt Nathan in sie gewesen sei. Kalman erklärt in dem Brief, er habe zwar die Absicht gehabt, die Karten offen auf den Tisch zu legen, es aber nicht übers Herz gebracht, von seinem Verhältnis zu erzählen, weil er Nathan nicht verletzen wollte. Er habe jedoch nicht davon ablassen können, zu Marika zu gehen, denn das Fleisch sei stärker gewesen als das Gewissen. Der Brief endete mit einer flehentlichen Bitte um Verzeihung.
In einem Postskriptum erzählt Kalman, der Vater habe ihn mit Marika im Bett ertappt, woraufhin es zu einem Wahnsinnstheater gekommen sei. Kurz darauf sei er nach Fiume geschickt worden, wo er diesen Brief schreibe, und er hoffe, Nathan werde ihn eines Tages dort besuchen.
Nathan fand seine eigene Begierde nach Marika natürlich und verständlich, die des Bruders und des Vaters verabscheuenswert. Was ihn jedoch am meisten schmerzte, war, dass sie ihn hintergangen hatten. Es kam ihm doppelt erniedrigend vor, dass sie nicht selten in seinem Beisein in herabsetzendem Ton von Marika gesprochen und den Eindruck erweckt hatten, ihr einfaches Wesen sei ihnen zuwider. Offenbar war dies nur ein Trick gewesen, um ihre körperlichen Beziehungen zu ihr zu verbergen.
Nathan hasste die Lüge. Dies kann auch daran gelegen haben, dass sein älterer Bruder Moricz nie die Wahrheit sagte. Die Lüge ließ Nathan schon als Kind völlig außer sich geraten. Selbst die unschuldigste Lüge konnte einen Bruch zwischen ihm und dem, der die Unwahrheit sagte, herbeiführen. Er war fest entschlossen, nie über gewisse Personen zu sprechen – seinen Vater, seinen jüngeren Bruder und Marika –, die er für immer aus seinem Leben verbannt hatte.
TRÄUME AM MEER
Kalman war mit einer von seinem Vater geerbten unerhört großen Nase und einer lästigen Hautkrankheit, Ichthyose, geboren, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Sein Körper, vor allem Arme und Beine, waren von einer dicken, schuppigen
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