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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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und fehlgeschlagene Pläne anging, fand er alle erdenklichen Erklärungen. Die monströsen Verbrechen, die der Führer mit nahezu verächtlicher Gleichgültigkeit befohlen haben sollte, unter anderem Blutbäder in den Reihen der Widersacher, tat Nathan als aberwitzige Behauptungen ab, die mit Logik und Realität wenig zu tun hätten. Er meinte auch, das Bild eines Landes in tiefer Depression stimme keineswegs mit der Wirklichkeit überein, und wenn es in Ungarn eine wirtschaftliche Krise gab, dann lag das ausschließlich an der bürgerlichen Klasse.
    Als Mitglied des Föderativen zentralen Exekutivkomitees wurde Nathan mitten in der sommerlichen Hitze zu einer Sitzung im Regierungsgebäude gerufen, um über die Befugnisse und Verantwortlichkeiten der Arbeitermiliz zu diskutieren. Die Parteiführung hatte aus glaubwürdigen Quellen erfahren, dass reaktionäre Regierungen in den Nachbarländern binnen kurzem ausländische konterrevolutionäre Truppen nach Ungarn entsenden wollten, um die Räterepublik zu zerschlagen.
    Zur Verwunderung aller erschien Béla Kun zu der Sitzung in Begleitung seiner Sekretärin und nicht seines Verteidigungsministers. Das Gerücht wollte wissen, die Sekretärin – die allgemein als unmögliche und untaugliche Frau angesehen wurde – sei seine langjährige Geliebte. Selbst Parteimitglieder, die nicht danach trachteten, den Namen des Führers anzuschwärzen, und denen jede Insinuation fernlag, ließen durchblicken, dies sei eine trübe Geschichte: Kun sei ihr schon als Gymnasiast in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Kolozsvár begegnet, wo sie als Minderjährige in einem Bordell gearbeitet habe, und jetzt erwarte sie sein uneheliches Kind. Dabei war er verheiratet und hatte mehrere Kinder mit seiner Frau.
    Nathan war Béla Kun noch nicht begegnet und betrachtete ihn interessiert von der hintersten Reihe im Raum. Der Führer der kommunistischen Partei war klein und weniger imposant, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er hatte kurz geschnittene Haare und trug den diskreten, gut sitzenden Anzug eines Oberklasseadvokaten. Sein feister Nacken und die breite Stirn, vor allem aber sein durchdringender Blick, erinnerten Nathan an ein Porträt Robespierres, das er irgendwo gesehen hatte. Die dunklen Ringe unter den Augen zeugten von Schlafmangel, und sein unrasiertes Gesicht ließ darauf schließen, dass ihm zumindest in den letzten Tagen die Zeit gefehlt hatte, sein Äußeres zu pflegen. Er hatte ein bäurisches Aussehen und einen ungarischen Nachnamen, der nicht zu seinem jüdischen Hintergrund passte. Nathan bemerkte sofort seine Eigenart, gewisse Adjektive stark zu betonen, die in seiner Rede mehrfach wiederkehrten und die er deklamatorisch aussprach, sodass jede Silbe hervorgehoben wurde, die letzte in einem singenden Tonfall. Béla Kuns Augen blitzten und seine Stimme donnerte, als er verkündete, er wolle niemandem zusätzliche Lasten auferlegen, aber es sei die selbstverständliche Pflicht jedes Kommunisten, Heldenmut an den Tag zu legen, Mühsal zu ertragen, ja sogar sein Leben zu opfern, falls fremde Soldaten ins Land kämen, um die Revolution der Arbeiter in den Schmutz zu ziehen. Er wedelte theatralisch mit den Armen, und Nathan fragte sich, ob er vielleicht plötzlich einen Revolver aus der Jackentasche ziehen und demonstrativ ein paar Schüsse auf das Symbol des Bürgertums an der Decke abgeben würde: die schweren Kristallleuchter.
    Vor Nathan standen mehrere große Kerle und versperrten ihm teilweise die Sicht. Deshalb dauerte es ein paar Minuten, bis er Béla Kuns Sekretärin zu Gesicht bekam. Er erkannte sie sofort, auch wenn ihr Gesicht jetzt runder war und sie ihr dunkles Haar blond gefärbt hatte. Es war Marika. Er beobachtete sie mit großen Augen. Es überraschte ihn, dass der Rausch und der Genuss, die sie ihm vor so langer Zeit geschenkt hatte, so intensiv gewesen waren, dass er noch jetzt, obwohl er glaubte, sie vergessen zu haben, sein Herz schneller schlagen fühlte. Bei der Erinnerung an ihre Liebesspiele stellte sich das Glied in seiner Hose auf.
    Nach dem Ende der Sitzung trat Nathan wie alle anderen in die Schlange, um Béla Kun die Hand zu schütteln, der sich mit einem starken Eau de Cologne parfümiert hatte. Der herbe Duft kitzelte Nathan in der Nase, und je näher er dem Führer kam, desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Er kam aus dem Konzept, fühlte aber, dass er gezwungen war, etwas zu sagen. Er wusste – ein älterer Genosse hatte es ihm erzählt –,

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