Das Elixier der Unsterblichkeit
Anblick des Verschmelzens ihrer Körper konnte Nathan nicht aushalten. Er machte kehrt und stürzte aus der Wohnung.
Er lief die Treppe hinunter und blieb vor der Haustür auf der Straße stehen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam und verlassen gefühlt. Von herzzerreißender Trauer erfüllt, dachte er, dass es auch nicht schlimmer sein könnte, lebend gehäutet zu werden. Er kannte die Trauer. Es war die gleiche Trauer, die er als Kind erlebt hatte, als ihm klar wurde – doch vielleicht war es nichts, was er verstanden hatte, sondern nur eine Art von Gewissheit, die langsam in sein Bewusstsein gedrungen war –, dass seine Mutter nie wiederkommen würde. Es war die gleiche Trauer, die ihn im Alter von zehn Jahren erfüllt hatte, als er unschuldig angeklagt wurde, in Hermann Kohns Delikatessengeschäft Türkischen Honig gestohlen zu haben. Sein Vater hatte ihm nicht geglaubt, sondern ihn verprügelt und sich nachher nicht einmal entschuldigt, als Nathans Unschuld bestätigt worden war.
Er holte tief Luft, schloss die Augen und versuchte, Kraft aus seinem Inneren zu schöpfen. Er konnte nicht verstehen, dass Marika ihm so etwas antat. Begriff sie selbst, wie tief sie gesunken war, wenn sie ihn mit seinem Vater betrog? Wie konnte sie mit einem derartigen Verrat leben? Oder nagte so etwas gar nicht an ihrem Gewissen? Erst jetzt, als er sich diese Fragen stellte, ging ihm auf, dass Marikas gesamte Existenz sich darauf gründete, Männern zu Gefallen zu sein, sie zu umarmen, Fremden zu gestatten, sie zu besitzen. Er beschloss, sie auf der Stelle aus seinem Leben zu streichen.
Was den Vater betraf, empfand Nathan eine tiefe Enttäuschung, die sich mit Zorn mischte. Etwas in ihm zerbrach. Sein Herz schlug heftig, Schwindel überkam ihn, als er an das Anstößige im Verhalten des Vaters dachte. Hinter all seinen hehren Redensarten über Ehrenhaftigkeit war sein Vater doch nur ein Hurenbock, der seine Hände nicht im Zaum halten konnte. Die Atmosphäre der Illusionen ist verflogen, sagte er zu sich selbst. Das Handeln seines Vaters und seiner Geliebten erschien ihm so schamlos und ungeheuerlich, dass eine kräftige Reaktion seinerseits unvermeidlich war. Er geriet völlig außer sich. Seit jenem Tag, an dem er des Konfektdiebstahls beschuldigt worden war, hatte er gewusst, dass er sich eines Tages von seinem Vater lossagen und keine Liebe mehr zu ihm empfinden würde. Jetzt war dieser Tag gekommen. Es war Zeit, den Schritt in die Freiheit und in die Reife zu tun. Denn diesen Vorfall würde er nie verzeihen können. Wozu wäre auch ein Verzeihen gut – es könnte das Böse ja nicht ungeschehen machen. In dieser schmerzlichen Stunde der Niederlage sah er ein, dass er seinem Vater nicht wieder in die Augen blicken könnte. Plötzlich fiel ihm der Ausspruch eines pickligen Studienkameraden ein, den seine Eltern aus dem Haus geworfen hatten, nachdem er beim Diebstahl erwischt worden war: »Wenn man auch nur die geringste Selbstachtung hat, muss man sein Elternhaus verlassen, bevor man zwanzig wird, und in die Welt hinausgehen.«
EIN WIEDERSEHEN
Auch wenn ich hiermit erneut den Ereignissen vorgreife, halte ich es für angebracht, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Nathan und sein Vater einander nie wiedersahen.
Marika traf er dagegen ganz unerwartet noch einmal. Es war im Juli 1919, in den letzten Tagen des kurzlebigen ungarischen Arbeiterstaats.
Im Jahr zuvor hatte Nathan seiner Phantasie über das Utopia, das im fernen Russland errichtet wurde, freien Lauf gelassen. Der Sozialismus war nicht länger nur eine Theorie, sondern er wurde in einem Land verwirklicht. Ihm wurde warm ums Herz, wenn er an das stolze russische Volk dachte, das einen tapferen Kampf für die Sache der Freiheit und der Gerechtigkeit kämpfte. Und in Lenin fand er, was er lange vermisst hatte: eine Vatergestalt, zu der er aufsehen, die er bewundern und lieben konnte.
Die Anziehungskraft der Russischen Revolution führte dazu, dass er unmittelbar mit der Räterepublik sympathisierte, die Béla Kun in Ungarn einführte. Er schloss sich der kommunistischen Partei an und arbeitete energisch für deren Sache. Dass das gerechte Paradies des Sozialismus, dessen Existenz Nathan sich im Osten vorstellte, wenig gemeinsam hatte mit dem Alltag in Budapest, wollte er sich lange Zeit nicht eingestehen. Er bildete sich ein, Béla Kun sei ebenso unfehlbar wie Lenin, und verteidigte ihn vorbehaltlos. Was Kuns politische Irrtümer, falsche Entscheidungen
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