Das Elixier der Unsterblichkeit
Gefangenen gerieten in Erregung und dachten voller Bewunderung an die Ausgebrochenen. Viele waren der Meinung, dass die Wachen nur bekommen hatten, was sie verdienten. Einige begannen zu überlegen, ob sie dem Beispiel der mutigen Hafenarbeiter folgen sollten.
Die Jagd nach den Ausbrechern dauerte die ganze Nacht. Im Morgengrauen spürten die Suchhunde die Männer aus Rostock fünfzehn Kilometer südöstlich von Dachau auf. Der Lagerkommandant, SS-Oberführer Hans Loritz, bekam einen Wutanfall, als er die Nachricht erhielt, die Ausbrecher seien erfroren aufgefunden worden, hatte er doch ausdrücklichen Befehl erteilt, sie lebend zu ergreifen. Loritz war enttäuscht, weil ihm das Vergnügen entging, die Männer eigenhändig zu Tode zu quälen und sie dann auf dem Appellplatz zur Schau zu stellen, auf einen Stuhl gesetzt und mit einem Pappschild mit dem Text »Herrlich, wieder hier zu sein« um den Hals. Der erzürnte Lagerkommandant brüllte aus vollem Hals, dass als Vergeltung für jeden getöteten Wachmann zehn Gefangene erschossen werden sollten.
Zwei bewaffnete Soldaten drangen in die überbelegte Baracke meines Großonkels ein, und in dem stickigen Halbdunkel zeigte einer von ihnen auf Fernando, der auf einer Pritsche lag. »Du da, steh auf, sofort, antreten! Du sollst raus, du wirst erschossen«, schrie der Mann in Uniform.
Mein Großonkel erstarrte, überzeugt davon, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Die Wachen gingen in den hinteren Teil der Baracke, um weitere Opfer auszusuchen. Fernando blieb einen Augenblick liegen, zusammengekrümmt und vor Entsetzen wie gelähmt. Als die Wachen außer Sichtweite waren, flüsterte Aron Reinherz, mit dem er die schmale Pritsche teilte, ihm etwas ins Ohr. Fernando kannte den alten Herrenschneider aus Wien, wo sie im selben Haus gewohnt hatten. In Dachau pflegten sie sich die Ruhepausen mit Schachspielen zu vertreiben; die Figuren waren aus getrocknetem Brot geformt.
»Herr Scharf, Sie haben mich so oft im Schach besiegt. Bewilligen Sie mir jetzt, mein Lieber, eine Gunst, die mir viel bedeutet. Lassen Sie mich Gewinner des Tages sein und Ihren Platz einnehmen.«
Vollständig überrumpelt kam mein Großonkel kaum dazu zu reagieren. Während Aron Reinherz sich von der Pritsche erhob, fuhr er fort: »Ich danke Ihnen für Ihre Großzügigkeit, Herr Scharf. Erlauben Sie mir noch eine zweite Bitte. Trinken Sie eines Tages in der Konditorei Sacher eine Tasse Kaffee und essen Sie ein Stück Kuchen für mich.«
Der alte Herrenschneider stellte sich an die Tür. Eine halbe Minute später führten die Wachen ihn und einen anderen Gefangenen zum Sammelplatz vor der Baracke.
Ein paar Gefangene, darunter mein Großonkel, schlichen sich an ein Fenster, um zu hören, was auf dem Platz vor sich ging. Ein paar Meter entfernt standen vier bewaffnete Wachen mit dampfenden Nasen und weiß bereiften Bärten. Die Gefangenen schnappten auf, dass die Wachen über die starke Kälte klagten. Da hörte man ein herzhaftes Lachen. Es war der Herrenschneider Aron Reinherz, der sich den Bauch hielt vor Lachen.
»Bist du nicht gescheit, Jude?«, schrie eine der Wachen. »Worüber lachst du? Was ist denn hier so komisch? Du wirst gleich sterben, Idiot.«
»Ich lache über euch Wachmänner.« Der alte Jude hob die Stimme, sodass seine Worte auf dem ganzen Platz zu hören waren. »Die Situation ist so furchtbar komisch. In ein paar Sekunden spüre ich die Kälte nicht mehr. Aber ihr steht hier noch den ganzen Morgen und zittert vor Kälte. Also wer ist hier der Idiot …«
In der nächsten Sekunde zerrissen drei Pistolenschüsse die eiskalte Luft.
DAS GROßE GLÜCK UNSERER FAMILIE
Als Rebecca nach Córdoba zurückgekommen war und ihr Vater sie fragte, was sie auf die Idee gebracht habe, eine Partie Schach vorzuschlagen, antwortete sie schlicht: »Nicht was, lieber Vater, sondern wer. Ein Engel, der auch meine Hand auf dem Schachbrett führte.«
Kurz danach starb Rebecca im Kindbett. Die Erziehung des zweijährigen Moishe übernahm der Rabbiner Orabuena.
Die ausgezeichneten Leibärzte de Espinosa in Lissabon wussten viel über Kräuter und Nutzpflanzen, aber nichts über die Welt, die sie umgab. Sie waren so davon in Anspruch genommen, ihren König zufriedenzustellen und ihrem Gott zu Gefallen zu sein, indem sie unablässig Trost in ihrer jahrhundertealten Tradition suchten, dass ihnen alle neuen Gedanken entgingen und sie sich nie die Mühe machten, von der Vielzahl an Ideen zu
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