Das Elixier der Unsterblichkeit
profitieren, die ihre Gegenwart zu bieten hatte. So lebten sie Generation auf Generation – in einer Epoche, da jüdische Mystiker einen seltsamen Drang verspürten, den Mysterien des Universums auf die Spur zu kommen, und poetische Texte von großer Schönheit und gedanklicher Tiefe schufen – in einer zurückgebliebenen Ländlichkeit, mit jener Gleichgültigkeit gegenüber gegenwärtigen und kommenden Ereignissen, wie sie für Menschen kennzeichnend ist, die in ihrer pompösen Engstirnigkeit befangen sind.
Der Rabbiner Orabuena dagegen war ein klardenkender Mann, dessen Intellekt sich in gelehrten Bahnen bewegte, mit einem ausgeprägten Sinn für Ethik. Sein ganzes Leben hindurch suchte er im Judentum, im Christentum und in der platonischen Philosophie nach gemeinsamen Denkmustern, denn er wollte die Gesetzmäßigkeit verstehen, die von dem veränderlichen irdischen Dasein bis hinauf in die Ewigkeit der Himmelssphären herrscht.
Er öffnete Moishes Augen für weite Horizonte und regte unablässig sein Denkvermögen an, übte es in Schnelligkeit und inspirierte es zu größerer Kühnheit. Vor allem lag ihm daran, im Bewusstsein des Jungen drei grundlegende Sätze früh und unauslöschlich zu verankern.
Diese drei fundamentalen Wahrheiten des Rabbis Orabuena kamen häufig über die Lippen meines Großonkels, deshalb erinnere ich mich besonders gut an sie – auch wenn ich zugeben muss, dass ich die Weisheit dieser Worte erst dreißig Jahre später begriff, als sie einen Bezug zu meinem eigenen Leben gewannen.
I.) Der Anfang aller Tugend ist die Nachdenklichkeit, ihr Ziel ist Beständigkeit.
II.) Es gibt immer mehr Richtpunkte für Wahrheit und Vernunft als die gängigen Ansichten und Gewohnheiten in der Zeit und der Gesellschaft, in der man lebt.
III.) Nur Narren sind sicher und glaubensgewiss.
DER ZWEIFACHE VERLUST
Was habe ich getan, um bei dem Allmächtigen in Ungnade zu fallen? Dies war Israels erster Gedanke, als ihn die Nachricht erreichte, dass Chaim in Granada hingerichtet worden war, weil er den Sultan vergiftet hatte. Ein dunkler Schatten legte sich auf die Stirn des alten Leibarztes, er fiel auf die Knie, seine Lippen verzogen sich zu einer Grimasse und die Tränen strömten über seine bärtigen Wangen. Er schrie seinen Schmerz laut und unbeherrscht hinaus, dann sank er ohnmächtig zu Boden.
Was peinigte Israel am meisten?
Sasha und ich erhielten nie eine Antwort auf diese Frage. Mein Großonkel seufzte mit einem in die Ferne gerichteten Lächeln, hatte aber ausnahmsweise keine Antwort. So weiß ich noch heute nicht, worüber Israel am meisten trauerte; dass er seinen Sohn verloren hatte oder dass er, der in der unumstößlichen Überzeugung lebte, der Sinn des Menschenlebens bestehe darin, dem Herrn zu dienen, Gottes Gnade verloren hatte?
Als Israel sich von dem ersten Schock erholt und einigermaßen die Fassung zurückgewonnen hatte, ging er hinauf zu Leah, der einzigen seiner Töchter, die unverheiratet war und noch im Haus der Eltern lebte, in einem Verschlag auf dem Dachboden. Sie hatten seit jenem entlegenen Tag, an dem Chaim zur Welt gekommen war, nicht miteinander gesprochen. Er wusste nicht, wann er Leah zuletzt gesehen hatte, und konnte sie kaum wiedererkennen, als er sie dort schmutzig und ungepflegt in unbeschreiblicher Unordnung stehen sah. Er betrachtete die Tochter, die seinem Blick auswich, und bemerkte, dass sie eine alte Frau geworden war, ohne je gelebt zu haben. Sie roch nach toten Blumen. Erst jetzt erkannte er, dass er entschieden zu weit gegangen war, er hatte sie ausgemerzt, hatte Leahs Platz in seinem Herzen austrocknen und sie zu einer Fremden werden lassen, und dies wegen einer Prophezeiung, die jetzt eingetreten war.
Voller Scham senkte er den Kopf und sagte, er sei gekommen, sie um Verzeihung zu bitten, denn sie habe von Anfang an recht gehabt – Chaim habe ewige Schande über den Namen de Espinosa gebracht. Kaum hörbar fügte er hinzu, dass Chaim tot sei. Seine Augen füllten sich mit Tränen, denn ein neuer Schmerz stieg in ihm auf bei dem Gedanken, dass dies das Ende der Geschichte seiner Familie bedeutete.
Da ergriff Leah das Wort, zum ersten Mal seit dreißig Jahren, und sagte, sie habe geschworen, dem Vater nie mehr mit einer Prophezeiung Kummer zu bereiten, doch müsse sie erzählen, was sie in ihrer durchdringenden Klarsicht erkannt habe: Die Zukunft der Familie sei gesichert, denn Chaim habe einen Sohn.
Einen Augenblick lang schien Israels Blut zu Eis
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