Das Elixier der Unsterblichkeit
betrachtete Rebecca eine Weile schweigend. Er bemerkte die Trauer in ihren Augen und die Würde in ihrer Verzweiflung.
Es war Rebecca, die das Schweigen brach. Ihr Blick war auf einen Tisch am hinteren Ende des Thronsaals gefallen; auf dem Tisch lag ein Schachbrett mit Marmorfiguren, zum Kampf aufgestellt. Das brachte sie auf eine Idee. Sie kannte die Vorliebe des verstorbenen Sultans für das Schachspiel und wusste, dass es für die Männer am Hof zu einer unbezwingbaren Leidenschaft geworden war.
Um ihr Leben zu retten, schlug sie eine Partie Schach vor. »Hochwürdiger Sultan«, sagte sie. »Wenn ich die Partie verliere, nehmt Ihr mein Leben, das meines Sohnes Moishe und das meines noch ungeborenen Kindes. Sollte aber wider Erwarten ich gewinnen, bitte ich Euch, unser Leben zu verschonen und uns das Recht zu bewilligen, in das Haus meines Vaters in Córdoba zurückzukehren.«
Rebecca zeigte damit einen Mut, der nicht einmal bei Männern häufig anzutreffen war. Ihr kühner Vorschlag überrumpelte Muhammed, nicht zuletzt, weil er wusste, dass keine Frau in Granada sich darauf verstand, mit den Figuren auf einem Schachbrett umzugehen. Er war sich bewusst, dass er nichts riskierte, wenn er ihre Herausforderung annahm, denn niemand außer seinem Vater hatte jemals eine Partie gegen ihn gewinnen können. Gleichwohl zögerte er einen Augenblick. Er blickte Nedjmaa an, wie um sie zu fragen: Was hältst du davon? Aber sie war ebenso überrascht wie er und konnte ihm keinen Rat geben.
Plötzlich trat ein zufriedenes Lächeln auf Muhammeds Gesicht, seine Augen leuchteten auf, und er nahm Rebeccas Vorschlag an.
Muhammed spielte konzentriert, selbstredend mit den weißen Figuren, und wählte eine kühne Eröffnung, die er von seinem Vater gelernt hatte. Rebeccas Verteidigung war nutzlos. Er gewann schnell die Oberhand und schlug zwei Bauern und einen Springer. Die Ratgeber, die das Spiel mit großen Augen verfolgten, waren überzeugt, dass er gewinnen würde. Als Rebecca einen scheinbar sinnlosen Zug machte, murmelten die Zuschauer abschätzig. Muhammed warf sich in die Brust und sagte: »Der Sieg ist nahe.« Doch er entdeckte sogleich, dass Rebeccas nächster Zug seinem aggressiven Spiel einen Riegel vorschob; in Wahrheit hatte sie ihm eine komplizierte Falle gestellt. Muhammed begriff, dass er zu sehr seinem Glück, das ihn noch nie verlassen hatte, vertraut und dabei die Klarheit des Denkens und die unerbittliche Logik, die Rebeccas Spiel innewohnten, nicht erkannt hatte. Er sah ein, dass er in zwei Zügen matt sein würde.
Da brach er die Partie ab, um nicht zum allgemeinen Gespött zu werden, und murmelte, nur mühsam gefasst: »Das war eine meisterliche Partie, die ich gewonnen hätte. Aber eigentlich habe ich keine Zeit, Schach zu spielen. Granada braucht einen kraftvollen Sultan, einen Mann der Tat, es gibt viele Probleme zu lösen. Ich bin ein Herrscher mit einem guten Herzen. Deshalb lasse ich dich jetzt gehen, Rebecca. Ich gebe dir zwei Stunden, um die Stadt zu verlassen.«
EINE SCHACHGESCHICHTE
Mein Großonkel erzählte uns wunderbare Geschichten über das Schachspiel und unterließ es selten, beiläufig bestimmte Züge in irgendeiner historischen Partie zwischen zwei Großmeistern aufzuzählen. Er liebte Schach. Das Spiel hatte ihm buchstäblich das Leben gerettet.
Es ereignete sich ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Dachau, dem ersten deutschen Konzentrationslager, das für die Aufnahme von Juden, Homosexuellen, sogenannten politischen Kriminellen und Arbeitsscheuen eingerichtet worden war.
Es war Winter und bitterkalt. Eines Nachts gelang es zwei Hafenarbeitern, die zu Hause in Rostock in der Gewerkschaft aktiv gewesen waren, aus dem Lager zu fliehen. Sie hatten in einem schmalen Gang die Lampen zerschlagen, im Schutz der Dunkelheit zwei Wachen überrumpelt, sie mit den Händen erdrosselt, sie entkleidet, ihre Uniformen angezogen und waren mit ruhigen Schritten durch den Haupteingang des Lagers ins Freie gewandert.
Nur eine Handvoll Gefangener war zuvor aus diesem Lager geflohen. Viele spielten mit Fluchtgedanken und überlegten ernsthaft, welche Möglichkeiten zum Ausbruch es gab, aber Dachau war kein Ort, von dem man sich einfach so davonmachen konnte. Die Gefangenen flohen also vorwiegend in der Phantasie.
In den Baracken wurde flüsternd die Kunde verbreitet, dass zwei Männer verhasste Wachen getötet und ihre Freiheit zurückerobert hatten. Die unterernährten und erschöpften
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