Das Elixier der Unsterblichkeit
zu gefrieren, aber auch diesmal glaubte er Leah nicht. Züge von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht traten auf sein Gesicht, und er tat, als hätte er die Worte seiner Tochter nicht gehört.
Abgezehrt und mit gelbem Gesicht, ein Opfer finsterer Stimmungen und heftiger Anfälle von Schwermut, verbrachte Israel mehrere Wochen eingeschlossen in seiner Studierkammer, zwischen Stapeln von Handschriften über die Rätsel des Pflanzenreichs und die religiösen Gesetze der Juden. Er lauschte dem Heulen des Windes in den Bäumen und dem fernen Sausen der Sterne. In den Nächten fand er kaum Schlaf. Morgens betete er mit eintöniger Stimme zum Herrscher des Weltalls, ihn mit weiteren Prüfungen zu verschonen.
Einige Wochen später erreichte ihn ein Brief des Rabbis Orabuena, der ihm mitteilte, dass jetzt, da Moishes Eltern beide tot seien, seine Frau und er sich des Jungen angenommen hätten. Der Brief bekräftigte Leahs Vorhersage.
Zwar dämpfte die Nachricht Israels Trauer ein wenig, doch verstärkte sie zugleich sein Gefühl, unzureichend zu sein. Wem sollte er die geheime Pflanze Raimundo anvertrauen? Er hatte keine weiteren männlichen Nachkommen – nur zwölf Töchter. Er musste das Wissen um das ewige Leben also seinem Enkel Moishe übergeben. Aber der Junge war doch erst zwei Jahre alt und lebte im fernen Córdoba.
Eines Nachmittags stieß Israel versehentlich an den Tisch, und eine Schrift, die ganz oben auf dem Stapel lag, fiel zu Boden. Es war
Sefer Jetzira
– ein jahrhundertealtes Werk, das um die Frage kreist, wie Gott die Welt schuf. Er hob sie auf und küsste sie wie zur Wiedergutmachung dafür, dass er das heilige Schriftwerk auf dem Fußboden hatte landen lassen. Er schlug es aufs Geratewohl auf und sein Blick fiel auf einen Satz: »Die zweiundzwanzig Grundbuchstaben schnitt ich zu, goss sie, stellte sie zusammen, erwog, tauschte aus und formte damit alles Geschaffene und alles, was in Zukunft geschaffen werden wird.« Er las den Satz einige Male und blieb an den Wörtern »tauschte aus« hängen. Ein Gedanke begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen.
In den nächsten Tagen entwarf der Leibarzt eine Geheimschrift. Als er mit dem System fertig war, chiffrierte er das Rezept für das Elixier der Unsterblichkeit und legte den Text zusammen mit einer kurzen Darstellung der Familiengeschichte in eine kleine, aus duftendem Zedernholz geschnitzte Kiste, die er sorgfältig versiegelte. In einem Begleitbrief bat er den Rabbiner Orabuena, die Kiste an einem sicheren Ort aufzubewahren und sie eines Tages Moishe zu übergeben, wenn er erwachsen geworden war.
Spät am Abend ging Israel zu Bett. Ein eigenartiges Schweigen herrschte im Raum, das Dunkel war besonders undurchdringlich und geheimnisvoll. Etwas Seltsames und Unangenehmes schien sich anzubahnen. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief, doch schon nach kurzer Zeit erwachte er mit einem Ruck. Im Schweigen der Nacht konnte er ein Geräusch vernehmen. Er hörte es deutlich und bekam Angst. Jemand blätterte in der Dunkelheit in seinen Schriften. Er setzte sich auf und wollte schreien, aber der Schrecken würgte seine Stimme ab. Dann spürte er, dass jemand in sein Bett kroch. Es war der Tod, das verstand er sofort, der mitten in der stillen Nacht zu Besuch kam, um ihn in seine Arme zu schließen.
DIE LIEBE EINER MUTTER
Mein Großonkel war stets ein wenig geheimnisvoll, wenn er von Rebecca sprach, die in seinen Augen mehr Engel als Frau war. In jener Zeit fürchtete ich mich nicht vor dem Rätselhaften und ließ mich auch nicht von Geschichten erschrecken, die nicht zusammenhingen; wir bekamen immer unbegreifliche und unerwartete Dinge zu hören, wenn mein Großonkel zu Besuch kam. Sasha und ich waren dreizehn, er war fünfundsiebzig. Auch wenn ich noch heute nicht sagen kann, dass ich mich auf Fernando verstand, so war mir immer klar, dass das grausame Schicksal Rebeccas ihm zutiefst ans Herz rührte. Normalerweise strahlte und leuchtete er. Aber wenn er an diese Frau im Granada des 14. Jahrhunderts dachte, schien alles Dunkle in ihm an die Oberfläche zu kommen, seine Augen füllten sich mit Tränen und er sagte, wie um zu unterstreichen, dass sie unser Mitgefühl verdiente: »Das Urteil, das der Himmel über Rebecca fällte, war strenger als die Strafe, die Muhammed ihr zugedacht hatte, weil sie die Frau des Giftmischers Chaim war.«
Was mein Onkel meinte, war, dass das Leben Rebecca nicht die Möglichkeit gegeben hatte, ihren Sohn großzuziehen. Sie starb
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