Das Ende aller Tage
eine semantische Wortspielerei«, erwiderte Ars Staykr. »Alle Männer und Frauen haben Herzen, selbst die grausamen und kalten. So ist es auch mit den Städten. Ich leugne nicht, daß Nunion in mancher Weise eine grausame und kalte Stadt ist. Die Menschen, die in ihr leben, müssen ständig kämpfen. Das Gute in ihnen wird allmählich überlagert und erstickt. Man fängt gut an und endet schlecht, weil man – ja, weil man vergißt, nehme ich an. Man vergißt, daß man Mensch ist.«
Ars Staykr machte eine Pause und blickte fragend in das glatte junge Gesicht vor ihm. »Sorgen Sie sich nicht, was aus Nunion wird«, sagte er, beinahe schroff. »Geben Sie auf sich selbst acht.« Er stand auf, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Einer seiner Männer bot ihm eine Zigarette an und sagte: »Das wäre die Sache mit dem Flughafen, Staykr. Wir haben alles im Kasten, was wir brauchen. Welchen Sektor nehmen wir als nächsten?«
Ars Stavkr lächelte und blickte umher. »Als nächstes beschäftigen wir uns mit den Politikern.«
Der jugendliche Rhapsodie sprang auf, erregt und sichtlich aggressiv.
»Hören Sie, wir könnten die politischen Schiebungen und Erpressungen aufs Korn nehmen«, sagte er. »Dann hätten wir heißen Stoff für unsere Dokumentation und würden der Bevölkerung noch einen Gefallen tun. Wir würden berühmt, alle miteinander!«
»Ich war damals noch ein verrückter, idealistischer Junge«, erläuterte der erwachsene Rhapsodie stolz und zugleich verschämt seinem Publikum. »Ich hatte noch zu lernen, daß das Leben nichts als eine Art Koordination von Schiebungen ist.« Er lächelte breit. um zu zeigen, daß er Spaß machte, sah Big Cellos steinerne Miene und verstummte.
Auf dem Bild nahmen die Männer der Abteilung zwei ihre Geräte auf und trugen sie zum Aufnahmewagen. Hinter ihnen senkte sich der Riesenkörper eines Frachters vom fernen Lapraca auf den Betonring des Landeplatzes. Seine Bremsdüsen kreischten schrill und durchdringend.
»Ich will Ihnen sagen, was wir brauchen«, sagte Ars Staykr, während er ein Stück der Ausrüstung schulterte. »Als ich zuerst in diese Stadt kam, um für Supernova zu arbeiten, stand ich in der Halle des Justizpalastes, kurz bevor ein wichtiger industrieller Fall verhandelt wurde. Ein paar Lokalpolitiker kamen auf dem Weg zur Zeugenvernehmung an mir vorbei, und ich hörte einen von ihnen sagen: ›Halten Sie Ihren Haß bereit, meine Herren.‹ Ich habe das nie vergessen. Für mich ist es immer ein Symbol dafür geblieben, wie Vorurteile einen Menschen verschlingen können. Szenen dieser Art müssen wir haben.«
Ars Staykr und seine Helfer verschwanden aus dem Bild. Es verblaßte, und Rhapsodie 182 kehrte zur Bühnenmitte zurück.
»Ich sehe da immer noch keinen Aufbau, Rhap«, sagte eine Stimme. Sie gehörte Rhapsodie 77 , einem Rivalen von Rhapsodie 182. Der Mann war Big Cellos rechte Hand und außerdem für Personalfragen zuständig. Mit solchen Leuten mußte man vorsichtig sein.
»Vielleicht sind Ihnen doch einige Feinheiten entgangen«, konterte Rhapsodie sofort. »Alles greift sauber ineinander. Die kleine Szene eben hat Ihnen gezeigt, warum Ars es nicht geschafft hat. Er redete zuviel. Er erörterte seine Pläne mit jedem, auch wenn der andere ein blutiger Anfänger war, wie zum Beispiel ich damals. Er war nicht hart. Er war nicht mehr und nicht weniger als einfach ein Künstler. Habe ich recht?«
»Wenn Sie meinen«, sagte der andere gleichmütig. Aber sofort neigte er sich seitwärts und sagte Big Cello etwas Unhörbares.
Rhapsodie gab dem Vorführer ein knappes Zeichen. Er war entschlossen, dieses Ding durchzubringen, und wenn er den ganzen Nachmittag und Abend dableiben mußte.
Hinter ihm erstand Ars Staykrs Nunion von neuem. Der Abend senkte sich über das zerklüftete Labyrinth der Stadt. Große Kugeln hingen wie Fesselballons am Himmel und strahlten grelles Licht aus. Der Originalkommentar wurde leiser; der Vorführer gab Rhapsodie Gelegenheit, seinen eigenen zu liefern.
»Nacht«, sagte er. »Ars verstand sie einzufangen, wie sie niemals vorher oder nach ihm eingefangen wurde. Ich entsinne mich, daß er zu sagen pflegte, die Nacht sei die Zeit, in der eine Stadt ihre Krallen zeige. Wir verbrachten zwei Wochen auf der Suche nach guten Szenen.«
Klauenförmige Schatten schoben sich ins Bild, Raubtierzähne aus Licht vor den dunklen Flanken schäbiger Mietskasernen. Eine fast fühlbare Ruhelosigkeit ging durch die Straßen und Plätze
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