Das Ende aller Tage
Wachstum aus. Dann verlangsamte sich die Bewegung, das Objekt rückte näher heran und enthüllte sich als ein Gebilde aus Beton, Eisen und Stein, vom Menschen zu Gebäuden und Straßen, zu Brücken und Türmen geformt.
»Dies«, verkündete Rhapsodie, »ist die wunderbare Stadt Nunion – unsere Stadt. Nunion, wie Staykr es in den Jahren seiner besten schöpferischen Kraft eingefangen und festgehalten hat. Diese Dokumentaraufnahme, vor zwanzig Jahren entstanden, sollte sein größtes Werk werden. Es wurde nie vollendet, aus Gründen, die ich Ihnen später erklären werde. Aber die sechzehn belichteten Spulen lagerten die ganze Zeit in unseren Archiven. Ich habe sie erst kürzlich entdeckt.
Ich werde jetzt eine Weile nicht sprechen. Ich bitte Sie, es sich bequem zu machen und die reine Schönheit dieser Aufnahmen zu genießen. Ich bitte Sie, ihren ästhetischen Wert und ihren Publikumsappeal zu beurteilen. Sehen Sie sich dieses Meisterwerk an, bei dem mitgewirkt zu haben ich noch heute stolz bin.«
Das Objektiv senkte sich langsam weiter herab, unter die höchsten Türme, durch die verschiedenen Verkehrsebenen und Fußgängergalerien bis auf den Boden, wo die runde Glaskuppel eines Überwachungspostens den langen Kameraabstieg vom Himmel in Miniaturgröße widerspiegelte. Dann änderte sich der Aufnahmewinkel und zeigte die zinnoberroten Stiefel eines Verkehrspolizisten.
Fast unbemerkt hatte ein Kommentar begonnen. Es war ein für die Dokumentarabteilung zwei typischer Kommentar: verhalten, ohne jedes Pathos, von Ars Staykrs eigener Stimme gesprochen.
»Auf den siebzigtausend Planeten des galaktischen Systems gibt es keine größere oder vielgestaltigere Stadt als Nunion«, sagte der Kommentar. »Für die Menschen aller Rassen ist sie längst zu einer Legende geworden. Sie zu beschreiben, ist unmöglich, ohne Statistiken und Zahlen heranzuziehen, und diese würden uns den Blick auf die Realität verstellen. Wir laden Sie ein, mit uns etwas von dieser Realität einzufangen. Vergessen Sie Tatsachen und Zahlen; sehen Sie sich statt dessen die Verkehrswege und Gebäude und vor allem die Menschen an, aus denen Nunion besteht. Sehen Sie und stellen Sie sich die Frage: Wie findet man das Herz einer großen Stadt? Welches Geheimnis liegt in ihrem Kern verborgen?«
Nunion bedeckte die zehn Inseln eines Archipels in der gemäßigten Zone von Yinnisfar und hatte sich zur Küste des nahen Kontinents ausgebreitet. Fünfhundert Brücken, hundertfünfzig unterseeische Tunnel, sechzig Luftrouten und unzählige Fähren, Boote und Ausflugsdampfer stellten die Verbindung zwischen den elf Sektoren und fünfundvierzig Distrikten her. Die Kamera erfaßte nun die Amethystbrücke und schwenkte weiter zum ersten Häuserblock an der Uferstraße. Ein junger Mann kam aus einem der Häuser, übersprang drei Stufen der Eingangstreppe auf einmal. Sein Gesicht spiegelte freudige Erregung wider. Er konnte kaum an sich halten. Seine Beine wollten ihn nicht so schnell tragen, wie er am liebsten gegangen wäre. Er war der junge Mann in jeder großen Stadt: der Mann, der seinem ersten Erfolg zustrebte, zuversichtlich über alle Maßen, voll übersprudelnder Energie. In ihm sah man die Antriebskraft, die den Weg zu siebzigtausend Planeten gefunden hatte und von siebzigtausend neuen träumte.
Der Kommentator sagte nichts davon. Das Bild sagte es für ihn, wie es den schnellen, energischen Schritt des jungen Mannes einfing, seinen scharfen und eckigen Schatten auf dem Pflaster verfolgte. Dann wechselte die Szene. In einer der zahllosen unterirdischen Röhren, die Nunions Adern und Därme waren, schwammen die geisterhaft sich verändernden Umrisse bizarr geformter Pseudo-Leukozyten. Mit unheimlicher Beweglichkeit ernährten sie sich von den treibenden Abfallstoffen der Riesenmetropole, verdauten sie und reinigten die Abwässer. Unsichtbar, sorgfältig gegen menschliche Blicke abgeschirmt, gingen die halb lebendigen Phantome ihren Bedürfnissen nach, die zugleich der Stadt nützten.
Ein neuer Schnitt, und man sah andere Diener der Hauptstadt: Die mechanischen Gehirne der Kontrollstation für den Luftverkehr. Die Kultur menschlicher Gehirne im Nebengebäude der Stadtverwaltung, die täglich zwei Milliarden Entscheidungen zu treffen hatte.
Die Bilder waren brillant, sofort verständlich und einleuchtend. Kein Kommentar begleitete sie, denn es war keiner nötig. Aber Rhapsodie 182 konnte nicht schweigen. Er trat auf die Rampe, so daß seine Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher