Das Ende Der Ausreden
mit gerunzelter Stirn am Schreibtisch sitzt, und sagen: »Lieber aus dem Weg gehen, die hat heute schlechte Laune.« Die Person könnte natürlich auch Kopfschmerzen haben oder testen, ob die Botoxinjektion endlich wirkt. Wir aber sind uns unserer Interpretation sehr sicher. Polizisten und Richter können ein langes Lied von der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen (»Aber hundert Prozent!!«) singen.
Noch weniger sind wir uns bewusst, dass wir viel über uns offenbaren, wenn wir eine Situation interpretieren oder über einen anderen Menschen sprechen. Für diesen Anteil der Kommunikation sind wir in aller Regel blind. Wann immer ich auf einen anderen zeige, weise ich, ohne es zu merken, stets mit drei Fingern auf mich selbst zurück.
Eine Szene, zwei völlig verschiedene Geschichten: der Holger-Effekt
In einer Gruppe von Freunden haben sich zwei in einem Streitgespräch verhakt. Sie streiten für ihre Positionen, und die Argumente fliegen mit viel Dampf und Energie durch die Luft. Irgendwann hält einer der beiden, Holger, inne und sagt: »Okay, ich kann deinen Punkt sehen. Ich glaube, du hast recht.«
Zwei andere haben die Auseinandersetzung aufmerksam verfolgt und erzählen später davon. Der eine sagt: »Und dann hat Holger den Streit in eine konstruktive Richtung gelenkt. Bemerkenswert souverän!«
Der andere berichtet: »Und dann ist Holger plötzlich eingeknickt und hat einfach aufgegeben. Ich hätte ihm mehr Kampfgeist zugetraut.«
Das waren nicht zwei verschiedene Situationen, die hier geschildert wurden, sondern ein und dieselbe. Aber es sind zwei sehr unterschiedliche Geschichten. Und die Differenz kommt ausschließlich aus der spezifischen Wahrnehmung zweier Menschen. Ihre jeweilige Wahrnehmung verweist auf implizite Werte und Annahmen darüber, wie »man« sich verhalten sollte, ja: muss .
Anders ausgedrückt: In dem Skript des ersten Beobachters sind Kompromissfähigkeit und Harmonie wichtige Werte; und in dieser Logik kann er das Einlenken von Holger nur gutheißen. Von ihm könnten Aussagen stammen wie »Der Klügere gibt nach!«
Im Skript des zweiten hat »Stark sein!« einen hohen Stellenwert. Gewinnen ist wichtig! Jemand, der nicht nach dieser Devise agiert, ist aus seiner Sicht nicht einfach nur neutral anders als er selbst, sondern er ist schwach.
Was stimmt denn jetzt eigentlich? Ist Holger ein souveräner Nachgeber oder ein konfliktscheuer Ausbüxer? Das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass den zweiten Erzähler Nachgeben provoziert und der erste Durchsetzungskraft mehr als skeptisch gegenübersteht. Die Frage ist: Warum ist das so?
Eine Fülle von Fähigkeiten und Einstellungen sind polarer Natur, das bedeutet, sie liegen jeweils auf den gegenüberliegenden Enden einer Skala. Durchsetzungskraft und Einfühlungsvermögen wären ein solches Paar. Beides sind Stärken, und es ist nicht möglich, von beidem ein Maximum zu haben. Je deutlicher die Ausprägung der einen Fähigkeit ist, umso geringer wird die Ladung der anderen sein.
Im Roman »Die Gabe des Schmerzes« von Andrew Miller wird die Geschichte eines Mannes im England des 18. Jahrhunderts erzählt. James ist der beste Chirurg seiner Zeit. Niemand schneidet so schnell und sicher, präzise und ohne Zögern. Dieser Mann ist geboren mit einem seltenen Defekt, der Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden. Als Kind wird er auf Jahrmärkten vorgeführt und vor dem entsetzten Publikum mit Nadeln gestochen, er wird in einem Kuriositätenkabinett gefangen gesetzt, ehe er dann seine berufliche Bestimmung findet. Seine Unfähigkeit auf der einen Seite macht ihn stark auf der anderen. Als er am Nachmittag seines Lebens den Schmerz spüren lernt und die Liebe erlebt, verliert er seine traumwandlerische Sicherheit des Schnittes. Plötzlich kann er sich vorstellen, was der andere spürt, und seine Hand zittert. Es ist das Ende seiner Laufbahn als Chirurg.
Wir wären freilich gerne sowohl sehr einfühlsam als auch ausgeprägt durchsetzungsstark. Wären gerne das karierte Maiglöckchen, das in den Stellenanzeigen immer gesucht wird, teamfähig und autonom, enthusiastisch und ausgeglichen. Sind wir aber nicht. Je stärker die Ausprägung, desto unflexibler sind wir. Positiv ausgedrückt: umso zuverlässiger handeln wir in einer vorhersagbaren Weise und kann man uns für Aufgaben, die diese Aspekte besonders erfordern, hervorragend einsetzen.
Und nun kommt es zum Holger-Effekt.
Wenn ich ein besonders einfühlsamer Mensch bin, erlebe ich bereits
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