Das Ende Der Ausreden
den Kopf. Aber ich sollte es können, ich sollte fähig sein auszuwählen, ob ich zuhören und den anderen Standpunkt zu verstehen versuche oder ob ich lieber saftig polemisieren möchte. Und nicht reflexhaft in die Kampfstellung gehen, sobald jemand etwas sagt, was meinen Selbstverständlichkeiten in die Parade fährt. Die Grundlage von Toleranz (und im Übrigen von Lernen), sind Gespräche ohne gegenseitige Abwertung und Überzeugungsdrang.
Diese Offenheit gelingt uns nicht, solange wir ganze Sperrgebiete des nicht Diskutierbaren im Kopf haben. Je mehr mein Denken und Argumentieren von unhinterfragten Selbstverständlichkeiten bestimmt ist, umso kleiner ist meine Welt. Reisen bildet nur, wenn ich meine Sinne, Verstand und Herz öffne für das Fremde. Frage, zuhöre, beobachte, einen unbeschrittenen Weg wage, etwas koste, was ich noch nie gegessen habe, für eine Zeit in andere Schuhe schlüpfe. Ein Gespräch kann eine solche Reise sein, wenn ich mich traue.
»Nimmst du zuerst den Tee und gießt dann die Milch dazu oder willst Du zuerst die Milch und füllst dann mit Tee auf?«, fragte mich vor vielen Jahren ein österreichischer Kollege, die Kanne und das Kännchen abwartend in jeweils einer Hand. »Das ist mir nicht wichtig, so oder so ist es mir recht!«, konnte ich reinen Herzens erwidern. »Das geht nicht! Das ist eine Frage von nationalem Interesse!«, konterte er ungehalten, und man hätte meinen können, er sei Brite, der sich in einer wirklich wichtigen Angelegenheit des Empires gekränkt fühlt.
Geschmacksfragen können höchst heikel sein, wenn es um nationale oder kulturelle Identität geht. Auch andere Differenzen können ins Kritische geraten: zwischen Hobbyköchen, ob man vor oder nach dem Anbraten salzen soll, oder zwischen Rosenliebhabern, wann die beste Zeit zum Rosenpflanzen ist – wurzelnackt im späten Herbst oder besser aus dem Container im Frühjahr, wenn kein Frost mehr droht. Es gibt für beide Seiten gute Argumente, dennoch wird es rasch hitzig. Und es kann tatsächlich ein handfester Richtungsstreit entstehen, bei dem man nach nicht allzu langer Zeit den anderen für blöd und uneinsichtig hält. Man bekommt im Alltag dennoch meist die Kurve, wechselt das Thema und kommt sich nicht in die Quere. So kochen Hobbyköche, die für Suppen tagelang Karkassen auskochen, selten mit solchen, die (undenkbar!!) zu fertigen Fonds greifen, ohne sich zu schämen. Wer eine Zucchini allerfeinst in zweihundert Stückchen ziseliert, kann kaum zusehen, wie jemand das Gemüse unvorstellbar grob in zehn ungehobelte Scheiben schneidet. Muss er ja auch nicht.
Unsere persönlichen Selbstverständlichkeiten verraten viel über uns
Bei uns allen wird es heikel, sobald es um Überzeugungen geht, die in der Regel schon recht alt sind (etwa so alt wie wir selbst minus fünf). Und die einen Baustein unseres sogenannten Skripts darstellen, in dem unsere grundsätzlichen Annahmen über uns selbst, über die Welt und darüber, wie wir in ihr zurechtkommen, enthalten sind.
Wir selbst bemerken nicht einmal, dass wir gerade eine unserer Selbstverständlichkeiten von uns geben, geschweige denn, dass diese viel über uns verraten. Aber: Grundüberzeugungen geben tatsächlich sehr viel Aufschluss über den, der sie äußert. Etwa, wenn wir etwas interpretieren (statt es zu beschreiben).
Beschreiben bedeutet: Ich gebe wieder, welche Elemente ich auf einem Bild sehe – ein Haus, einen Mensch, ein Feld, einen Himmel, ein Pferd. Ich benenne vielleicht die Farben und die Größenverhältnisse. Interpretieren geht darüber hinaus, es (er-)findet eine Bedeutung, legt etwas ins Bild hinein: Der Himmel sieht bedrohlich aus, der Mensch entschlossen, das Pferd unruhig. Wahrscheinlich gibt es ein Gewitter.
Wahrnehmung ist nie frei von Interpretation, kann sie gar nicht sein. Wahrnehmung ist immer schon zugleich Bewertung und Deutung. Bereits eine einzelne Farbe (geschweige denn ein ganzes Bild) nehme ich nicht nur einfach als Licht bestimmter Wellenlänge, nicht einfach nur als »rot« wahr. Sondern ich mag die Farbe oder nicht, sie erinnert mich an Klatschmohn, ich erlebe sie als kraftvoll oder aufdringlich, an der Ampel bleibe ich stehen.
Dass wir simultan wahrnehmen, interpretieren und bewerten, entlastet, macht uns schnell und alltagstauglich. Normalerweise sind wir uns nicht im Klaren darüber, dass wir gerade interpretieren, sondern wir halten es für eine Wahrnehmung und meistens für die Wahrheit. Wir sehen, wie jemand
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