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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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irgendeinem Grund hatte Drew damals Becca die Schuld an allem gegeben und war ebenfalls fortgezogen. Angeblich hatten Ant und sie sich darüber «auch fast getrennt».
    Ich erinnerte mich noch dunkel an das erste Exposé für meinen literarischen Roman, der damals noch Sandwelt hieß und von einer Gruppe junger, schlanker, langhaariger Menschen handeln sollte, die alle in Brighton lebten. Über etwa dreihundert Seiten hinweg sollten sie coole Drogen nehmen, coole Musik hören und miteinander vögeln; dann war der Roman zu Ende. Er passte genau zu dem, was meine Agentin damals «Zeitgeist» nannte, hatte aber zu wenig Substanz, weshalb ich die Hauptfigur mit einer gefährlichen Liebesgeschichte ausstattete. Außerdem fügte ich ein philosophisches Seminar zum Thema Hedonismus ein und machte die jungen Großstadtbewohner zu Studenten. Ich verfasste massenhaft sinnlose Abschnitte über Nihilismus und löschte sie anschließend alle wieder. Dann beschloss ich, dass das Ende des Romans mit dem Ende der Welt zusammenfallen müsse, was aber auch nicht funktionierte. Also drehte ich es so hin, dass man das Ende der Welt auch als großes Feuerwerk auf Sark oder einer anderen Kanalinsel deuten konnte – der Leser sollte in diesem Punkt im Unklaren gelassen werden. Anschließend legte ich das Manuskript beiseite und schrieb ein weiteres Zeb-Ross-Buch und einen weiteren Newtopia-Roman, weil ich dringend Geld brauchte.
    Als ich mich dann wieder mit Sandwelt befasste, löschte ich den allergrößten Teil davon, änderte den Titel in Fußspuren , beschloss, die Figuren nach Devon umzusiedeln, und konzentrierte mich bei meinen Recherchen auf Umweltthemen. Ich verwandelte die Hauptfigur erst in eine Wissenschaftlerin und dann in eine Autorin, die gern Wissenschaftlerin wäre, weil mir das authentischer erschien. Vor kurzem unternahm ich den Versuch, den Roman zu einer großen Tragödie umzuschreiben, aber das wollte auch nicht richtig klappen. Ich hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, dass ich ständig versuchte, den Roman an mein Leben anzupassen, und dann die Passagen löschte, die zu nah dran waren – ich radierte sie einfach aus, so wie ein paar Außerirdische im Videospiel, die in den Flur der Raumstation eingedrungen sind. Mir war schleierhaft, was ich dagegen machen sollte. Ich hatte mir eine Figur ausgedacht: einen New Yorker Autor, der sein ganzes Buch löscht, bis nur noch ein Haiku davon übrig ist, und schließlich löscht er auch das. Und dann hatte ich ihn gelöscht. Ka-wumm! Sichern und laden. In den letzten paar Jahren hatte ich zwei Schwestern namens Io und Xanthe ersonnen, die alles im Leben verloren haben, eine Baustelle mit gelben Kränen, eine heruntergekommene Pension mit einer verlebten alten Besitzerin namens Sylvia, einen rücksichtslosen Freund, einen verheirateten Liebhaber, eine junge Frau, die im Koma liegt und ihre gesamte Lebensgeschichte in Echtzeit erzählt, einen lebenserhaltenden Apparat, der an das Internet gekoppelt ist, einen charismatischen Physiklehrer namens Dylan, eine übersinnliche Quizshow, eine ausgedehnte Partie «Wahrheit oder Pflicht», die völlig aus dem Ruder läuft, Menschen, die in einer Sauna eingesperrt sind, einen Autounfall, ein bedeutungsschwangeres Tattoo, Träume von einer Welt ohne Erdöl voll flackernder Kerzen, einen Flugzeugabsturz, einen Hochstapler, eine Figur mit einer Zwangsneurose, die jede schriftliche Anweisung befolgen muss, die ihr unterkommt, ein paar widerliche Spam-Mails, einen bezaubernden halbwüchsigen Skateboardfahrer und noch etliche weitere Dinge – die allesamt wieder gelöscht worden waren. Alle an die Wand, und dann: Peng, peng, peng !
    Ich hörte, wie Christopher nach oben kam, auf dem Treppenabsatz vor der Badezimmertür stehenblieb und vernehmlich seufzte. Dann stieg er die zweite Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Wollte er etwa schon ins Bett? Er ging immer früher schlafen als ich, weil er unter der Woche schon um sechs mit dem Bus nach Totnes fuhr, wo er als freiwilliger Helfer bei einem Projekt zur Rekonstruktion einer Mauer arbeitete. Aber es war noch nicht einmal neun. Gleich darauf kam er die Treppe wieder herunter und rüttelte an der abgeschlossenen Badezimmertür.
    «Eine Minute noch, ich bin gleich draußen!», rief ich.
    «Kann ich nicht reinkommen? Ich muss pinkeln.»
    «Ich wollte sowieso gerade raus. Kannst du noch kurz warten?»
    «Ich platze gleich. Außerdem will ich ins Bett. Warum hast du überhaupt abgeschlossen? Und

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