Das Ende der Geschichten (German Edition)
dick. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es früher einmal zur William-H.-Dawe-Sammlung gehört hat, kann mir allerdings nicht vorstellen, wie es ins Meer gekommen ist. Keine Ahnung, warum das Universum es dir zugespielt hat – wahrscheinlich, damit du es mir geben kannst und ich es wieder dem Rest der Sammlung im Schifffahrtsmuseum zuführe.»
«Effizient gedacht vom Universum.»
«Unser gutes altes Universum», sagte Rowan. «Ist doch sehr nett, dass es dir das Original schenkt und nicht einfach irgendeine Kopie. Allerdings ist das um einiges unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass es das Original nur einmal gibt, dafür aber mehrere tausend Kopien.»
Ich zuckte die Achseln. «Alles passiert doch irgendwie zufällig, warum dann nicht auch das? Warum müssen wir immer gleich annehmen, etwas, das für uns Bedeutung hat, hätte diese Bedeutung von einer höheren Macht oder auch nur einem listigen Menschen bekommen? Warum können die Dinge nicht einfach nur so passieren?»
«Nichts passiert ‹einfach nur so›.»
«Wie meinst du das?»
«Es steckt immer irgendeine Motivation dahinter. Hinter allem, was man sieht, steht immer auch etwas, das man nicht sieht. Keine Geister oder Monster, sondern meistens Menschen, die etwas aus guten Gründen tun.»
«Ja. Das stimmt wohl.»
«Aber sag mal … Warum willst du überhaupt eine rationale, wissenschaftliche Erklärung dafür? Oder etwas anders gefragt: Warum wollen Menschen – einschließlich mir – eigentlich immer wissenschaftliche Erklärungen für alles? Wäre es nicht viel romantischer und spannender, wenn dir das Universum dieses Schiff einfach aus irgendwelchen Gründen vor die Füße gezaubert hätte?»
«Nein.»
«Und warum nicht?»
«Das weiß ich nicht.» Stirnrunzelnd dachte ich an das Scharren vor der Tür in Dartmouth zurück. «Vielleicht, weil das auch beängstigend und unheimlich wäre.»
«Aber warum?»
«Kann ich nicht genau sagen. Wenn das Universum eine Art Bewusstsein hat, verändert das doch alle Grundannahmen über das Leben in ihm. Es nimmt uns irgendwie den freien Willen. Ich zumindest möchte nicht in einem Universum leben, in dem alles eine konkrete Bedeutung hat und nichts mehr rätselhaft ist. So ein Universum muss doch unergründlich sein. Man sollte seine Bedeutung nicht benennen können, so, wie man Hamlet oder Anna Karenina auch nicht auf einen einzelnen Satz reduzieren oder versuchen sollte, zu sagen, was sie ‹eigentlich bedeuten›. Ich will ein tragisches Universum, kein hübsch in sich geschlossenes mit einer Moral am Ende. Und ich glaube auch nicht, dass es sich lohnt, nach einer letztgültigen Bedeutung dieses Universums zu suchen. Tolstoi hat das versucht, und das Ergebnis ist so viel weniger spannend als seine Romane.»
«Was für ein Ergebnis war das denn?»
«Eine Religion namens Tolstoianismus, die auf ihre Weise natürlich schon auch spannend ist. Er tritt darin für Vegetarismus und Pazifismus ein. Aber er behauptet auch, sämtliche Antworten zu kennen, was ich nicht sonderlich schätze.»
«Und wie kam es dazu?»
«Mit Mitte fünfzig hatte er einen Zusammenbruch. Damals war er bereits berühmt und erfolgreich, hatte ein großes Haus und eine Familie, aber er sah keinen Sinn mehr im Leben. Also hat er sich auf eine spirituelle Odyssee begeben und ist dabei immer verrückter geworden, hat noch das letzte Tröpfchen Bedeutung aus dem Universum herausgepresst und verzweifelt versucht, ihm auf den Grund zu kommen und ganz genau herauszufinden, warum er existiert. Als er dann irgendwann versucht hat, seine Vorstellungen vom Jenseits Tschechow zu unterbreiten – der das Jenseits seinerseits für eine Art ‹gallertartige Masse› hielt, in der man verfließt und seine Individualität verliert, aber trotzdem ewig weiterlebt –, hat Tschechow ihn nicht verstanden. Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Er hat sich allerdings auch nie groß mit dem Sinn des Lebens im Allgemeinen befasst, sondern vielmehr mit dem Leben, wie es gelebt wird. Was die Leute um ihn herum sagten und taten, hat ihn viel mehr interessiert. Er war ganz besessen von den Einzelheiten des Lebens. Tolstoi hat seine eigenen Schriften immer als Lehren betrachtet, und sein Zusammenbruch wurde vor allem dadurch ausgelöst, dass er befürchtete, eigentlich nichts zu lehren zu haben. Tschechow hingegen hat sein Schreiben ohnehin immer nur als ein Formulieren von Fragen betrachtet und brauchte deshalb nicht in eine Krise zu geraten. Während
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