Das Ende der Geschichten (German Edition)
alles, was ich sonst noch im Studium gelernt hatte – verwendete ich für meine eigenen Deutungen. Wenn eine Frau beispielsweise den Wagen aufdeckte, dachte ich an Königin Boudicca. War es ein Mann, dachte ich an Cäsar. Ich filterte die archetypischen Elemente jeder Karte heraus, indem ich an die historischen Figuren dachte, die mir dazu einfielen. Irgendwann sah ich in jeder Karte unendlich viel, und das war ja alles neu für mich und ungeheuer aufregend. Wahrscheinlich war es noch viel aufregender, weil ich verliebt war und förmlich barst vor Energie … So habe ich mich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt.» Er seufzte. «Bald konnte ich selbst die Karten legen, und Maisie und ich sprachen ein paar Wochen lang über nichts anderes. Die Karten haben uns richtig verbunden. Wenn wir über Klarsicht und Konzentration reden wollten, besprachen wir das As der Schwerter. Wenn es um Entscheidungen ging, redeten wir über die Karte der Gerechtigkeit. Ich wurde immer besser im Deuten und auch auf der gebrauchten Gitarre, die ich mir in Genua gekauft hatte. Wir reisten immer weiter, auf der Suche nach englischsprachigen Leuten, weil bei ihnen unsere Deutungen tiefer gehen konnten als einfach nur: ‹Sie haben Problem mit Ihre Mann.› Erst reisten wir mit dem Schiff nach Sizilien, dann mit einem anderen nach Malta. Wir hatten den Plan, immer weiter zu fahren, irgendwann nach Afrika zu gelangen und dann vielleicht gemeinsam um die ganze Welt zu reisen. Und ich hatte mich gegen die Rückkehr nach Cambridge entschieden. Es war eine magische Zeit. Wir wuschen uns im Meer und schliefen am Strand. Irgendwann fuhren wir mit dem Schiff von Malta auf die Insel Gozo, wo es eine Kommune gab, von der wir gehört hatten; Revoluzzer aus aller Welt warteten dort gemeinsam darauf, eine Revolution anzuzetteln. Das war wahrscheinlich die glücklichste Zeit meines Lebens. Wir tranken gozianischen Wein, kifften, diskutierten über Politik und legten natürlich unsere Tarotkarten. Die Kommunisten hielten das Tarot allerdings für dekadent und bourgeois.»
«Und was ist dann mit Maisie passiert?»
Rowan seufzte wieder und trank einen großen Schluck Wein. «Ihre Schwester wollte kommen, um uns zu besuchen und eine Zeit lang mit in der Kommune zu leben. Wir hatten ihr geschrieben, weil wir ein paar Sachen brauchten. Nähzeug, Briefpapier, Kulis und Bleistifte, Bob-Dylan-Kassetten – solche Dinge. Und ein neues Deck Tarotkarten. Die waren damals nicht ganz leicht zu kriegen. Ich hatte mir noch in Italien ein eigenes Deck gekauft, doch Maisies Karten waren schon richtig abgegriffen. Nie wären wir auf die Idee gekommen, nach Desinfektionsmittel oder sonst etwas derart Erwachsenem zu fragen. Wir waren jung, wir würden niemals sterben. Vor allem nicht an etwas so Dummem wie einer Septikämie.»
«Das war es also? Eine Blutvergiftung?»
Er nickte. «Ja. Liz, Maisies Schwester, hatte schlechte Nachrichten von zu Hause mitgebracht. Maisie war sehr aufgelöst und hat mich gebeten, ihr die Karten zu legen. Eigentlich legten wir uns gegenseitig praktisch nie das Tarot, weil uns das seltsam vorkam, aber sie war völlig verzweifelt. Wir nahmen ihr neues Kartendeck dafür. Und weil sie die Fragestellerin war, die eine Antwort vom Tarot haben wollte, hat sie die Karten gemischt. Dabei hat sie sich einen Papierschnitt zugezogen, hinten am kleinen Finger, gleich oberhalb des ersten Fingergelenks. Wir achteten gar nicht weiter darauf. Aber als wir die Karten aufdeckten, sahen wir beide gleich, dass es ein ziemlich schreckliches Blatt war.» Rowan runzelte die Stirn. «Wir hatten uns damals so sehr in die Bedeutung der Karten vertieft, dass wir jede kleinste Nuance kannten – oder das zumindest glaubten. Im Tarot steht der Tod nicht für den eigentlichen Tod. Er kann beispielsweise auch einen Neuanfang bedeuten. Obwohl man das weiß, ist es trotzdem immer schrecklich, wenn der Tod an entscheidender Position aufgedeckt wird. Ich glaube, in diesem Fall erschien er an zweiter Stelle, als die Karte, die quer über der ersten zu liegen kommt. Das war der Tod, und danach kamen noch die Drei und die Neun der Schwerter. An den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich meine, die Sechs der Schwerter hätte an der ‹Ergebnis›-Position gelegen. Es war richtig schlimm. Maisie redete sich ein, sie wäre verflucht, obwohl sie genau wusste, dass die Karten keine solche Wirkung haben, und im Gegensatz zur gängigen Meinung auch überzeugt war, dass sie
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