Das Ende der Geschichten (German Edition)
nichts über die Zukunft aussagen, sondern nur über die Gegenwart. Sie wurde richtig depressiv. Als ihr Finger sich entzündete, hat sie sich gar nicht darum gekümmert. Mir ist es erst aufgefallen, als es zu spät war und sie bereits eine Blutvergiftung hatte. Unterwegs ins Krankenhaus, auf dem Schiff zurück nach Malta, hat sie das Bewusstsein verloren. Und eine Zeit lang sah es so aus, als würde sie sterben.»
Beim Erzählen hatte Rowan die Karten mit der Bildseite nach oben gemischt. Jetzt zog er die Sechs der Schwerter heraus und reichte sie mir.
«Weißt du», sagte er, «jedes Tarot-Deck ist anders. Doch die Grundidee jeder einzelnen Karte bleibt immer gleich.» Er rückte auf dem Sofa näher zu mir heran und deutete auf die Sechs der Schwerter, die ich in der Hand hielt. Unsere Arme berührten sich leicht, während er mir die Karte erklärte. «Auf dieser Karte ist immer ein Boot zu sehen, mit einem Menschen an Bord, meist einer Frau, und man assoziiert eine schwierige oder traurige Fahrt über das Wasser. Das Tarot stellt nie etwas eins zu eins dar. Und trotzdem kommt es dem, was Maisie geschehen ist, recht nahe.» Er seufzte wieder. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort: «Tut mir leid. Eigentlich geht es mir gut. Es ist alles in Ordnung. Das sind gerade nur die Erinnerungen, vielleicht auch der Gedanke daran, wie jung und frei man einmal war und wie plötzlich das alles zu Ende gegangen ist.» Seine Augen füllten sich mit Tränen.
«Ist schon gut», beruhigte ich ihn.
Und dann brach die Wellenfunktion all dessen, was ich potenziell hätte sagen können – dass Maisie von einer kleinen Insel aus so oder so eine Fahrt übers Wasser hätte antreten müssen, dass ihr Koma auch durch den Nocebo-Effekt ausgelöst worden sein konnte, dass meine Großmutter Margaret, deren Namen ich trug, auch Maisie genannt wurde, dass ich eifersüchtig auf Rowans erste Liebe war, dass ich gern gewusst hätte, wie Lise sich verhielt, wenn er sentimental wurde, dass er doch auch heute noch frei sein konnte, wenn auch nicht mehr jung –, einfach so in sich zusammen, und plötzlich hielt ich ihn fest in den Armen, strich ihm über das weiche, sich lichtende Haar und sagte: «Schon gut. Ich verstehe das.»
«Wir können nicht …» Er rückte ein wenig von mir ab.
«Tun wir doch auch nicht», sagte ich. «Keine Angst. So unsensibel bin ich nicht, dass ich …»
Da zog er mich fest an sich. «Ich weiß.»
Ein paar Minuten lang schwiegen wir, dann sagte Rowan, er müsse kurz pinkeln, und ich wies mit dem Finger nach oben, wo das Bad war. Während er fort war, schichtete ich Feuerholz im Kamin auf. B., die offenbar erkannte, was ich vorhatte, kam plötzlich von dort hervor, wo sie sich versteckt hatte, und ließ sich vor dem Kamin zu Boden plumpsen, so dicht davor, dass sie praktisch in der Feuerstelle lag und sich Asche ins Fell schmierte.
«Weg da, Dummerchen», sagte ich zu ihr. «Raus aus dem Feuer.»
Rowan kam gerade wieder nach unten. «Was hast du gesagt?»
«Oh.» Ich lächelte ihn an. «Alles klar?» Er zuckte die Achseln und lächelte zurück. «Ich hatte Bess nur gerade vorgeschlagen, sich vielleicht nicht ganz direkt ins Feuer zu legen. Sie wartet schon die ganze Zeit darauf, dass ich es endlich anzünde.» B. sprang aufs Sofa. Ich zündete mein Wigwam aus Holzscheiten und Zeitungspapier mit einem Streichholz an, und die Anzünder fingen sofort Feuer.
Rowan setzte sich ebenfalls zurück aufs Sofa und schenkte uns beiden Wein nach.
«Beeindruckend.» Er deutete auf das Kaminfeuer.
«Ach … das liegt nur an den Anzündern.» Ich stellte den Funkenschutz auf. «Jetzt heißt es Daumen drücken, dass die Hitze auch wirklich stark genug ist, damit die Scheite Feuer fangen. Das klappt nicht immer. Aber diesmal müsste es eigentlich reichen. Wenn es funktioniert, gibt es am Anfang immer ziemlich viele Funken, daher der Funkenschutz, und dann … Warum erzähle ich dir das eigentlich? Du kennst dich sicher aus mit offenem Feuer.»
«Stimmt. Wobei wir damals, als ich noch selber welches machte – vorwiegend am Strand –, keine Feueranzünder hatten. Einen offenen Kamin im Haus hatte ich noch nie. In meiner Kindheit hatten wir keinen, und Lise wollte auch keinen, weil das zu viel Arbeit und Dreck macht. Bei dir sieht das aber ganz einfach aus.»
«Na ja, er brennt ja nun auch noch gar nicht richtig. Mit Lagerfeuern ist das wahrscheinlich genauso. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie endlich brennen, und dann
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