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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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wie ein wild lebender Bergmensch. Vi ihrerseits glich einem dieser Berge: groß, zerklüftet und beständig, wobei auch hier und da gefährliche Stürze drohten, wenn man auf den falschen Pfad geriet.
    Eines kalten Nachmittags, als Frank und Claudia unterwegs waren, um unsere Vorräte aufzufüllen, bat ich Vi, mir das Stricken beizubringen. Ich hatte noch nie gestrickt, doch an einem frostigen, leeren Tag Anfang Dezember, nach einem Riesenstreit mit Christopher, hatte ich aus einer Laune heraus in Dartmouth Wolle und Stricknadeln gekauft. Manchmal, wenn ich mit Christopher stritt, fühlte ich mich danach wie ein Planet, der durch irgendeine unbeschreibliche kosmische Erschütterung aus seiner Umlaufbahn geflogen war, mit dem Ergebnis, dass nun schon die ganz normale Drehbewegung radioaktive Stürme, Erdbeben und Tsunamis auslösen konnte. Dann stand ich in der Küche und traute mich nicht, auch nur irgendetwas zu tun, weil schon der kleinste Seufzer, der belangloseste Blick aus dem Fenster alles wieder lostreten konnten. Wenn ich später über den kleinen Seufzer oder den angeblich belanglosen Blick nachdachte, wurde mir meistens klar, dass sie durchaus etwas bedeutet hatten, und dann fragte ich mich, ob nicht doch ich selbst die Wurzel aller Probleme war, die es mit Christopher gab.
    Als ich an jenem Tag aus der Stadt zurückkam, war der Streit noch nicht vorbei.
    «Ach so», begrüßte mich Christopher. «Während ich hier fast umkomme vor Sorge, gehst du in aller Ruhe einkaufen.»
    Der Wind vom Meer her war so kalt gewesen, dass er einem fast den Atem nahm, und ich spürte weder meine Finger noch meine Zehen, als ich nach Hause kam. Mehr noch: Ich spürte mich selber kaum. Als wir frisch nach Dartmouth gezogen waren, hatte ich ganze Nachmittage lang in den Geschäften gestöbert und mir vorgestellt, Millionärin zu sein und mir einfach diesen Kaschmirpullover, jene löchrige Einhundert-Pfund-Jeans und die dunkelroten Schnürstiefel dort drüben zu kaufen. In Dartmouth gab es einiges zu durchstöbern: Handtaschen, Hardcoverbücher, Häuser, Boote, Urlaubsangebote und sogar verschiedene Sorten Schwertfisch für die Dinnerparty. Meistens zog ich einmal in der Woche los, um mir einen kleinen gelben Holzbrotkasten anzusehen, der über fünfzig Pfund kostete. Doch an diesem Tag hatte ich festgestellt, dass ich keine Lust dazu hatte und plötzlich auch die Leute verachtete, die sich mit so etwas die Zeit vertrieben. Wir müssen sowieso alle sterben , hätte ich ihnen am liebsten ins Gesicht gebrüllt. Wozu hängen wir dann noch an solchen blöden, beschissenen, sinnlosen Gegenständen? Ich hatte mich bei meinem Einkaufsbummel also nicht gerade königlich amüsiert. Nachdem ich meinen halb wahnsinnigen Blick und mein erschöpftes Gesicht in genügend Boutiquenspiegeln betrachtet hatte, beschloss ich, irgendwo hinzugehen, wo es keine Spiegel gab. Daher das Strickgeschäft. Ich hatte es noch nie betreten, doch mir gefiel der Gedanke, dass es eigentlich nichts Konkretes verkaufte, nur Muster und Material und Möglichkeiten. In einer Kiste mit reduzierter Ware hatte ich drei Knäuel roter Wolle entdeckt und die dazu passenden Stricknadeln.
    «Ich habe Wolle gekauft», sagte ich zu Christopher. «Ich dachte, ich könnte vielleicht lernen, dir Socken zu stricken.» Und dann, als er den Wasserkessel aufsetzte, brach ich in Tränen aus. «Ich wollte doch nur mal etwas Nettes tun für dich, ich weiß doch, dass du warme Socken brauchst für das Projekt und …»
    Bis der Tee, den er für mich machte, fertig war, kaute er nur auf der Unterlippe. Aber als er mir den Becher reichte, sagte er: «Ich bin so ein Idiot. Bitte verzeih mir, Babe.»
    Zwei Wochen später erkundigte er sich, wie lang das mit den Socken denn wohl noch dauern würde. Ich hatte es schon wieder total vergessen.
    «Ein Weilchen schon noch, Süßer», antwortete ich. «Im Augenblick kann ich ja noch nicht mal einen Schal stricken.»
    In Schottland hatte ich immerhin endlich Zeit zum Stricken. Vi und ich machten es uns im Wohnzimmer gemütlich, umgeben von Büchern, Kulis, Bleistiften und Notizbüchern, dazwischen Claudias Stickrahmen und Franks Brettspiel «Cricket für Regentage». Im Kamin prasselte ein Feuer, B. lag mit den anderen Hunden davor, und sie schnarchten in unregelmäßigen Abständen wie ein gelangweilter Background-Chor. Ich fischte die Wolle aus meiner abgenutzten Hanfumhängetasche und hielt sie Vi hin. «Fällt dir was ein, was ich damit

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