Das Ende der Geschichten (German Edition)
anfangen könnte?», fragte ich.
«Das ist ja klasse!», rief sie. «Ich habe dich noch nie stricken sehen. Da siehst du bestimmt aus wie eine alte Tante.»
«Kann schon sein. Ich komme ja auch langsam in das richtige Alter.»
«Ach was», meinte Vi. «Ich habe vor allem als junges Mädchen viel gestrickt. Claudia konnte das natürlich besser als ich. Jetzt habe ich schon seit Jahren nichts mehr gemacht. Zuletzt habe ich eine Decke aus Lambswool gestrickt, auf der Schiffsreise von Tasmanien nach England, während Frank Krieg und Frieden auf Russisch gelesen hat. Aber ich denke, ich kann dir schon zeigen, wie man Maschen anschlägt und anfängt. Alles andere bringt dir dann Claudia bei. Weißt du, dass sie mir die hier gestrickt hat?» Vi bückte sich und zog die Beine ihrer Jeans hoch, und ich sah die obere Hälfte der gestreiften Socken, die aus ihren schweren, abgewetzten Doc Martens hervorschauten. «Als ich damals aus Tasmanien zurück war, hat sie allen Ernstes die Fehlmaschen in meiner Decke gezählt, die alte Ziege. Am besten strickst du erst mal einen Schal im Krausstrickmuster, dafür brauchst du nur rechte und keine linken Maschen. Und anschließend strickst du dann einen im Rippenmuster, zwei rechts, zwei links. Vielleicht stricke ich ja auch mal wieder einen Schal. Wenn ich deine Wolle sehe, kriege ich richtig Lust.»
«Ich möchte Socken stricken», sagte ich. «Für Christopher.»
Vi machte ein entsetztes Gesicht. «Wieso das denn?»
Ich zuckte die Achseln. «Ich habe einfach das Gefühl, handgestrickte Socken würden ihn glücklich machen.»
«Dann soll er sich doch selber welche stricken. Frank kann das auch. So schwierig ist das nicht.»
Ich lachte. «Ich glaube, ihn macht vor allem die Vorstellung glücklich, dass ich Socken für ihn stricke.»
«Ach herrje.»
«Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Er fühlt sich einfach geliebt, wenn ich mir etwas Mühe gebe.»
«Aber gleich handgestrickte Socken? Ein Paar Socken, das dauert etwa hunderttausend Jahre. Strick dir erst mal selber welche.»
«Claudia hat dir doch auch welche gestrickt.»
«Klar, aber die alte Schrapnelle macht ja auch nichts anderes als stricken, wenn sie nicht gerade lektoriert oder stickt. Sie muss andere Leuten beschenken. Außerdem ist sie meine Schwester.»
«Stimmt.»
«Aber bis zu den Socken ist es sowieso noch ein weiter Weg. Erst mal musst du mit dem Schal anfangen.»
«Okay. Ist das schwierig?»
«Du kannst Zeb-Ross-Romane schreiben, da wirst du auf jeden Fall einen Schal hinkriegen.»
Eine Zeit lang beschäftigten wir uns damit, Maschen anzuschlagen. Vi zeigte mir, wie ich mit den Fingern eine Schlinge und dann eine Art Lasso formen musste. Ich sah zu, wie sie ein paar Maschen anschlug, dann ließ sie alle wieder von der Nadel gleiten und zog den Wollfaden glatt, als hätte sie einen Zauber rückgängig gemacht. Nachdem ich etwa eine Stunde lang geübt hatte, waren mir immerhin zwanzig Maschen gelungen: Eine lange rote Reihe hing von der Stricknadel, sodass sie aussah wie ein bluttriefendes Schwert.
«Und was mache ich jetzt?», wollte ich wissen.
Vi nahm mir die Nadeln ab. «Du stichst ihn ab», sagte sie und bohrte die leere Nadel durch die erste angeschlagene Masche. «Dann hängst du ihn auf», fuhr sie fort und schlang den Faden um die Nadel, «und anschließend wirfst du ihn über den Zaun.» Sie bewegte die Nadel nach unten, nach oben und zur Seite, und ich sah, dass eine neue Masche hinzugekommen war. «Das ist übrigens von Claudia. Als wir stricken gelernt haben, konnte sie sich das nicht anders merken.»
Ich verbrachte eine weitere Stunde mit Üben, und langsam, aber sicher entstand ein nicht sehr anspruchsvolles Gewebe daraus. Vi tippte auf ihrem Notebook, hielt aber immer wieder inne, um zu überprüfen, wie ich vorankam.
«Das machst du toll», lobte sie mich. «Du bist ein Naturtalent. Kein Wunder, bei deinen heilenden Händen.»
«Sehr witzig. Ich habe keine heilenden Hände.»
«O doch!»
«Ich glaube ja nicht mal an heilende Hände.»
«Na und? Du hast trotzdem welche.»
Vor Jahren, als Vi und Frank noch in Brighton wohnten, hatte sie ein Buch über Reiki geschenkt bekommen, und eines Abends hatten wir es ausprobiert. Der Grundgedanke war, dass man mit Hilfe der Hände heilende Energie übertrug – teilweise sogar, ohne sie richtig aufzulegen. Als Vi die Hände über meine vom vielen Schreiben verspannten Schultern hielt, spürte ich Wärme, und anschließend war es
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