Das Ende der Geschichten (German Edition)
tatsächlich etwas besser. Frank behauptete, meine Hände übertrügen viel mehr Energie als die von Vi. Angeblich war seine Ballenentzündung, über die ich die Hände gehalten hatte, innerhalb einer Woche verschwunden. Meine Schulterverspannungen wurden allerdings bald wieder schlimmer, und ich dachte nicht mehr weiter an Reiki.
Jetzt strickte ich noch ein paar Reihen.
«Vielleicht sollte ich das professionell machen», sagte ich. «So wie meine Freundin Libby.»
«Besser, du machst es nur zur Entspannung», meinte Vi. «Sonst verdirbst du es dir noch.»
«Auch wieder wahr. Oh, da fällt mir ein Witz ein. Also, nicht direkt ein Witz, eher eine Geschichte. Auf einer tropischen Insel lebt eine Gemeinschaft aus Fischern. Sie stehen jeden Tag auf, wann sie wollen, fahren mit ihren Booten raus und fangen genügend Fisch für sich und ihre Familien – und manchmal auch noch für Bekannte, die krank sind und sich nicht selbst darum kümmern können. Jeder hat einen Garten, in dem er alles anbaut, was er sonst noch braucht. Und wenn sie mit dem Fischen fertig sind, beschäftigen sie sich mit ihren Kindern, spielen Karten oder sitzen in der Sonne und lesen. Abends essen sie ihren Fisch, und anschließend besuchen sie sich gegenseitig, erzählen einander Geschichten oder feiern einfach. Eines Tages kommt ein Amerikaner auf die Insel, um dort Urlaub zu machen. Bislang hat es dort kaum Touristen gegeben, aber die Insel ist gerade in irgendeinem dieser Bücher über ‹unentdeckte Orte› erwähnt worden. Der Amerikaner schaut sich an, wie die Leute leben, und als ihn einer der Männer mit zum Fischen nimmt, sagt er zu ihm: ‹Weißt du, ihr lasst euch hier wahnsinnig gute Möglichkeiten entgehen. Wenn ihr gemeinsam eine Firma gründen würdet, könntet ihr viel mehr Zeit mit Fischen verbringen und den Überschuss, den ihr selbst nicht zum Leben braucht, exportieren. Ihr könntet euch größere Häuser bauen mit eigenem Swimmingpool, ihr könntet Geld für eure Kinder anlegen, euch schöne Kleider kaufen und die ganze Welt bereisen. Irgendwann braucht ihr dann gar nicht mehr selber zu fischen, sondern könnt andere Leute dafür einstellen. Und noch später – stell dir das bloß mal vor – habt ihr alle Millionen auf der Bank und könnt euch zur Ruhe setzen und …› – ‹Und dann›, unterbricht ihn der Fischer, ‹kann ich mir auch solche Urlaube leisten, wie du sie jetzt machst, und den wahren Frieden und die wahre Harmonie dabei finden, einfach nur im Sonnenschein zu fischen.›»
Vi lächelte. «Das gefällt mir. Es ist eine Geschichte ohne Geschichte. Du willst doch auch ein einfaches Leben, oder? Zumindest wolltest du deswegen im Herbst nicht nach Griechenland. Du hast gesagt, das einfache Leben hilft dir beim Schreiben. Beim echten Schreiben, meine ich. Vielleicht ist Stricken dafür ja auch gut.»
Beim echten Schreiben, hatte sie gesagt. Ich überlegte, wie «echt» meine Newtopia-Bücher wohl waren und die Zeb-Ross-Romane. Immerhin konnte man in so ziemlich jede Buchhandlung gehen und mindestens eines davon in die Hand nehmen. Dagegen existierte mein literarischer Roman bisher nur in meinem Kopf. Er war kaum echter als die Gespenster, an die ich als Kind geglaubt hatte.
«Christopher will ein richtig einfaches Leben», meinte ich. «Noch einfacher als das, das ich mir wünsche, glaube ich. In letzter Zeit sagt er häufig, er würde nie mehr neue Kleidung kaufen, sondern nur noch die alten Sachen flicken, die er bereits hat, was ihm bei künftigen Bewerbungsgesprächen wahrscheinlich nicht gerade zugute kommt. Aber die Idee an sich ist schon irgendwie cool.»
«Solange er nicht von dir erwartet, dass du ihm Socken strickst.»
Wir mussten beide lachen. Dann strickte ich noch ein bisschen weiter.
«Ich habe das ja bisher nicht zugegeben», sagte ich, «aber irgendwie wünschte ich, ich wäre doch nach Griechenland gegangen.»
Vi sah von ihrem Notebook auf, und ihre Gesichtszüge verschoben sich langsam zu einer liebevollen Version des «Das hab ich dir doch gleich gesagt»-Blicks.
Vergangenen Sommer hätte ich die Möglichkeit gehabt, den Oktober in einer Künstlerkolonie auf einer griechischen Insel zu verbringen und dort an meinem «echten» Roman zu arbeiten. Der Zeitpunkt war im Grunde perfekt: Ich hatte gerade den letzten Zeb-Ross-Roman beendet und mit Orb Books vereinbart, den nächsten erst wieder in einem Jahr zu schreiben. Vi war im Jahr zuvor in dieser Kolonie gewesen und meinte, es sei
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