Das Ende der Geschichten (German Edition)
die natürlich voll ist von solchen Pizza-Freunden und ähnlichen hoffnungslosen Fällen, die fern jeder Transzendenz sind, und deshalb kein besonders angenehmer Aufenthaltsort ist. Werden Sie sich klar darüber, was Sie am meisten ersehnen, und dann machen Sie sich auf, es zu bekommen. In meinem nächsten Buch werde ich das Wesen und den möglichen Aufbau solcher Heldenreisen erläutern und mögliche Ansätze aufzeigen, wie man sie erfolgreich absolviert. Bis dahin erfahren Sie so ziemlich alles, was man benötigt, um ein wahrer Held zu werden, aus der Lektüre klassischer Sagen, Erzählungen und Märchen.»
Meine Gedanken hatten sich völlig verheddert, als ich das Buch beiseitelegte und nach meinem Strickzeug griff. Ich hatte nicht mehr viel von der türkisfarbenen Wolle übrig; trotzdem blieb ich bis nach Mitternacht auf, reihte rechte an rechte und linke an linke Masche, um mein Zwei-Rechts-Zwei-Links-Muster fortzusetzen. Dabei fragte ich mich immer wieder, warum ich dieses Buch bloß so schrecklich fand. Für Menschen, die jemanden verloren hatten oder sich vor dem Tod fürchteten, bot es zweifellos einen großen Trost. Es war sauber argumentiert, und selbst die mathematischen Berechnungen wirkten halbwegs nachvollziehbar. Vielleicht hätte ein echter Wissenschaftler ja sagen können, was mit Newmans Theorie im Kern nicht stimmte. Ich fragte mich vor allem, was der Omegapunkt mit der ganzen Sache eigentlich bezweckte.
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Die türkisfarbene Wolle hatte ich von Frank und Vi zu Weihnachten bekommen. Letztes Jahr im Dezember machten wir zusammen mit Claudia, die Programmleiterin bei Orb Books und außerdem Vis Zwillingsschwester war, Urlaub in einem Ferienhaus in Schottland. Zwischen Claudia und mir herrschte eine leicht angespannte Stimmung, weil der Verlag mir kurz zuvor mitgeteilt hatte, man werde den Vertrag für meine Newtopia-Reihe nicht verlängern, damit ich mich künftig mehr auf die Zeb-Ross-Projekte konzentrieren könne. Vi erzählte ich etwa eine Woche vor Weihnachten davon, als Claudia sich nachmittags ein wenig hingelegt hatte und wir zu zweit in der Küche standen und Rote-Bete-Suppe kochten. Ich sagte ihr, dass Orb Books meine Romane anscheinend nicht mehr «massentauglich» genug fand und ich für dieses Genre zu experimentierfreudig sei. Vi klopfte mir auf die Schulter und sagte: «Bestens! Schieß sie ab. Schreib endlich dein eigenes Buch fertig und pfeif auf ihre Pomadentöpfe!»
Mit den letzten Worten spielte sie auf Aristophanes’ Stück Die Frösche an, das sie im Rahmen der Recherchen für ihr nächstes Projekt gerade wieder las. In der Komödie steigt der griechische Gott Dionysos in die Unterwelt hinab und inszeniert einen Wettstreit zwischen den beiden toten Dichtern Aischylos und Euripides; er will damit herausfinden, wer der bessere Tragödiendichter ist und deshalb ins Leben zurückkehren soll, um Athen zu retten. Nacheinander kritisieren beide die Stücke des anderen. Euripides wirft Aischylos vor, er schreibe zu düster, bedeutungsschwanger und überhaupt viel zu gekünstelt. Doch dann kann Aischylos ihm nachweisen, dass seine klugen, aber doch schablonenhaften Stücke sich allesamt nur darum drehen, dass jemand um seinen Pomadentopf kommt. Letztlich lief die Kritik darauf hinaus, dass jede schablonenhafte Geschichte immer mit einem Konflikt beginnt, der später aufgelöst wird – dass also jemand einen Pomadentopf verliert, den er später wiederfindet.
Vi mörserte den Pfeffer für die Suppe, während ich Orangen in ihre Einzelteile zerlegte: Zesten, Saft und Filets. Frank schaute kurz herein, um sich ein Glas Sherry zu holen, und kehrte dann ins Wohnzimmer zu seiner Cricket-Übertragung zurück. Die Hunde lagen vor dem Kamin, und auf dem Klavier stand der Käfig mit Franks Papagei Sebastian, dessen sinnlose Kommentare hin und wieder zu uns herüberschallten, beispielsweise: «Das war ja nicht so berühmt gestern», «Bis nach den Ferien, Oma!» und «Einhundertachtzig!».
«Wenn wir Nietzsches Argument folgen, dass Kunst und Literatur doch etwas Tiefgreifenderes bewirken müssten, als dass einfach nur jemand einen Pomadentopf verliert und ihn anschließend wiederfindet, wird es offensichtlich, wie unsinnig die allermeisten Geschichten sind.» Vi sah von ihrem Mörser auf. «Alles nur öde Wiederholungen, in denen der ewig gleiche Idiot immer wieder den ewig gleichen Pomadentopf verliert, ihn dann natürlich wiederbekommt und daraufhin glücklich bis ans Ende seiner Tage
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