Das Ende der Geschichten (German Edition)
lebt und kein gar so großer Idiot mehr ist. Ich bin mir allerdings noch nicht ganz sicher, ob und – wenn ja – wie Nietzsche da genau hineinpasst. Womöglich hat er nicht völlig recht mit dem, was er über die Tragödie sagt. Ich weiß schon, du findest, dass sich die Tragödie jeder Schablone entzieht, aber mich überzeugt das noch nicht ganz.»
«Warum denn nicht? Wenn in einer Tragödie jemand einen Pomadentopf verliert, dann ist der immer ganz entscheidend, und am Ende sind alle tot.»
«Das ist trotzdem noch eine Schablone.»
«Aber findest du es nicht bezeichnend, dass es eben nicht gut ausgeht?»
«Aus Nietzsches Sicht geht es aber doch gut aus. Genau das meine ich ja. Er findet es klasse, dass alle wieder zurück in die ursprüngliche Selbstvergessenheit sinken.»
Ich dachte einen Augenblick nach. «Das ist allerdings interessant.»
Die Küche füllte sich immer mehr mit dem süßen Duft der gebratenen Rote Bete. Vi konzentrierte sich wieder auf ihre Pfefferkörner und zerrieb sie mit sanftem, aber entschiedenem Druck.
«Ich muss immer wieder an die Geschichten denken, die die Leutchen im Altenheim erzählen», sagte sie. «Sie haben keinen Anfang und auch kein Ende – weder ein gutes noch ein schlechtes. Die meisten Menschen versuchen ja, sich und ihr Leben in eine Art Schablone zu pressen, unterlaufen die dann aber auf irgendeine subversive Weise. Eine Frau, mit der ich dort gearbeitet habe, hat mir erzählt, wie einmal ihr Kind hereingekommen ist, als sie und ihr Mann sich gerade auf dem Wohnzimmerteppich liebten. ‹Augenblick noch, Schätzchen›, sagt der Vater zu dem Kind. ‹Ich muss Mama gerade noch zu Ende pimpern.›»
Ich musste lachen. «Was ist denn daran subversiv?»
«Na, eigentlich hätte das doch ein hochdramatischer Moment sein müssen. Aber das war es eben nicht.»
«Aha.»
Während Vi weitere Anekdoten aus dem Altersheim zum Besten gab, die sich um Oralsex, Gebisse, künstliche Darmausgänge, Pilzinfektionen und Neunzigjährige beim Lap-Dance drehten, überlegte ich mir, wie ich die Sache mit dem Pomadentopf als Übung für meinen nächsten Orb-Books-Workshop verwenden könnte. Ich stellte mir vor, den angehenden Autoren zu erklären, wie leicht sich eine Handlung entwickeln ließ, wenn man sich nur vorstellte, die Hauptfigur habe einen Pomadentopf verloren, den sie am Ende des Romans wiedergefunden haben müsse. Aber Vi meinte natürlich etwas ganz anderes. Sie war immer noch dabei, ihre Theorie von der «Geschichte ohne Geschichte» zu entwickeln. Die Idee dazu war aus ihren ausgedehnten anthropologischen Forschungen entstanden. Sie war erst vor kurzem – recht spät mit vierundsechzig Jahren – zur Professorin berufen worden und hatte nun vor, die «Geschichte ohne Geschichte» zum Thema ihrer Antrittsvorlesung zu machen. Ich selbst beschäftigte mich kaum noch mit solchen Fragen, denn inzwischen hing immerhin mein ganzes Leben davon ab, dass es mir gelang, das schlimme Schicksal einer sympathischen, aber glücklosen Romanfigur glaubhaft zum Guten zu wenden und ihr am Ende zur Belohnung einen Pomadentopf auszuhändigen – oder was sie sonst haben wollte. Mein «richtiger» Roman sollte natürlich viel weniger schablonenhaft und dafür um einiges literarischer werden, aber wenn ich mich Vis Theorien zu lange aussetzte, endete das irgendwann wahrscheinlich nur damit, dass sich meine Erzählstrategie in «Dumm gelaufen!» erschöpfte.
Der Aufenthalt mit Frank, Vi und Claudia in Schottland war ein richtiger Urlaub. Tagsüber gingen wir mit den Hunden am Strand spazieren, lasen oder schrieben in unsere Notizbücher. Frank hatte sich Hausarbeiten zum Korrigieren mitgebracht, Claudia redigierte einen Zeb-Ross-Roman, und Vi saß an einem Artikel für Oscar, denselben Literaturredakteur, der mir die Wissenschaftsbücher zum Rezensieren gab. Abends lagen die Hunde vor dem Kamin, und Sebastian hüpfte, genau wie zu Hause, in seinem großen Käfig auf dem Klavier herum und lockerte die Shakespeare-Zitate, die man ihm beigebracht, und die Cricket-Ausdrücke, die er aus dem Radio aufgeschnappt hatte, mit selbständig eingeprägten Wörtern und Sätzen auf, «Bananen» beispielsweise oder «Du hast ziemlich viele Haare, Frank». Letzteres sagte er unabhängig davon, mit wem er gerade sprach. Allerdings hatte Frank tatsächlich ziemlich viele Haare. Er war Anfang fünfzig, hatte einen zotteligen Vollbart, buschiges Haar, rissige Fingernägel und stechende grüne Augen –
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