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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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einem großen Medienkonzern aufgekauft, und das Imprint bekam einen neuen Namen. Eine Zeit lang erhielt ich noch hin und wieder Mails von irgendwelchen neuen Lektoren, die sich erkundigten, wie es denn mit dem Buch vorangehe, aber seit 2006 hatte ich nichts mehr gehört. Wahrscheinlich war der Vertrag in irgendeinem Aktenschrank vergessen worden und ins Altpapier gewandert. Ich zumindest hatte meinen eigenen Durchschlag definitiv verlegt. Und selbst meine ursprüngliche Agentin hatte sich längst verabschiedet und arbeitete inzwischen in Cornwall als Lehrerin, sodass ich auch niemanden mehr hatte, den ich danach fragen konnte.
    Ich hatte die Mail mit der Absage erst zwei Wochen vor der geplanten Abreise nach Griechenland abgeschickt. Eigentlich hatte ich gehofft, dadurch zu verhindern, dass ich nachts, wenn Christopher längst schlief, stundenlang wach liegen und nach Atem ringen würde, aber im Endeffekt machte es alles nur noch schlimmer. Den ganzen Oktober über googelte ich das Wetter in Griechenland, saß gähnend in der Bibliothek und schlief fast an meinem Platz ein. Seither hatte ich meinem Roman circa zweitausend Wörter hinzugefügt und circa zwanzigtausend gelöscht, was mich auf einen Reingewinn von minus achtzehntausend Wörtern brachte. Ob man wohl einen Roman abgeben konnte, dessen Wörterzahl sich im Minusbereich bewegte? Auch den Titel hatte ich noch einige weitere Male geändert; derzeit lautete er Der Tod der Autorin . Insgesamt war das alles furchtbar frustrierend. Unterdessen schrieb ich ohne das geringste Problem schablonenhafte Genreromane, die bisher eine Gesamtwörterzahl von etwa einer halben Million aufwiesen, ohne je auch nur einen kleinen Teil davon zu löschen oder ständig den Titel zu ändern. Vielleicht war der Grund ja, dass ich eigentlich nur schablonenhafte Genreromane schreiben konnte.
    «Wie läuft es eigentlich mit dir und Christopher?», fragte Vi. «Eine ehrliche Antwort, bitte.»
    «Ach, wie gehabt.» Ich seufzte. «Ich weiß, ich sollte mich zusammenreißen. Wahrscheinlich kann ich aus der Griechenland-Geschichte ja etwas lernen. Wenn ich das nächste Mal so eine Gelegenheit bekomme, werde ich sie wohl beim Schopf packen. Vielleicht. Aber das hat eigentlich nichts mit Christopher zu tun.»
    «Strick ihm bloß keine Socken.»
    «Nein.»
    «Ich werde dir ein paar Bachblüten zusammenmischen. Du siehst mitgenommen aus.»
    «Danke.»
    Am nächsten Tag ging Vi ins Dorf, kaufte sich schwarze Alpakawolle und machte sich daran, einen Rippenschal daraus zu stricken. Claudia fand irgendwo in den Tiefen ihrer Koffer noch ein angefangenes Regency-Kleid und setzte sich zu uns, um daran weiterzustricken. Ich kam mir vor wie in einem Club. Das Strickzeug in meinen Händen fühlte sich echt an, und ich brauchte nichts weiter zu tun, als einfach Masche an Masche zu reihen, damit das Ergebnis länger wurde. Das war viel einfacher, als an meinem Roman zu schreiben. Anfangs machte ich nach jeder Reihe eine Pause, sah mir an, wie lang mein Schal bereits war, und rechnete mir aus, wie lang er in einer halben Stunde sein würde oder am nächsten Tag. Doch nach einiger Zeit hörte ich damit auf. Es war viel leichter, den Faden um die Finger gewickelt zu halten, so, wie Vi es mir gezeigt hatte, am Ende einer Reihe einfach die Nadeln zu drehen und mit der nächsten Reihe weiterzumachen. Hatte ich einen Fehler gemacht, nahm Claudia mir die Nadeln ab, korrigierte ihn und gab ihre Kommentare dazu ab: «Ja, die Masche hier ist ganz verdreht … Sieh dir das an, Vi, was sie da gemacht hat … Und hier hast du eine fallen lassen.» Dann gab sie mir das Strickzeug zurück, und ich nahm mir fest vor, keine weiteren Fehler zu machen, weil es klang, als wären sie äußerst schwer auszubessern.
    Während wir strickten, las Frank uns russische Märchen vor. Er schrieb gerade an der Einleitung zu einer neuen Ausgabe der Sammlung von Alexander Afanasjew aus dem neunzehnten Jahrhundert und versuchte sich auch an der Übersetzung. An Heiligabend hatte er gerade eine Geschichte mit dem Titel Die Ziege kehrt heim beendet. Er räusperte sich und sagte dann zu Vi: «Das wird dir gefallen, Liebste. Dazu hat selbst Propp nichts zu sagen.» Dann las er vor:
«Ziegenbock, Ziegenbock, sag, wo warst du?
Die Pferde war ich weiden.
Und sag, wo sind die Pferde?
Fortgeführt hat sie Nikolka.
Und sag, wo ist Nikolka?
In die Kammer ist er gegangen.
Und sag, wo ist die Kammer?
Sie ist im Wasser versunken.
Und sag, wo ist das

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