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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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machte und seinen Schnurrbart zwirbelte. In dem Traum waren noch ein paar andere Sätze vorgekommen – Sätze, die ich kannte und die anscheinend irgendwie damit zusammenhingen: Du wirst die Dinge, die du anfängst, nie zu Ende bringen. Du wirst es nicht schaffen, das Monster zu besiegen. Und am Ende stehst du vor dem Nichts. Ich duschte rasch und ging dann mit B. an den Strand. Das machte ich im Winter jeden Morgen so, und an manchen Tagen wurde ich auch richtig wach davon, doch meistens nützte es nicht viel. An diesem Morgen hatte ich mir die zahllosen kleinen Rankenfußkrebse angeschaut, die an den Felsen klebten, hatte an Darwins Evolutionsstudie über sie gedacht und an die Rankenfußkrebsweibchen, die zwischenzeitlich «auf jeder Seite einen Gatten» hatten. So wie Libby, dachte ich grinsend. Wenn wir tatsächlich in einer Art Zweitwelt lebten, was hatte die Evolution dann für einen Sinn? Vermutlich würde Newman darauf erwidern, der ganze Witz an der Evolution in der ursprünglichen Welt sei gewesen, die richtigen Wissenschaftler zu schaffen, die dann ihrerseits den Omegapunkt erschaffen konnten. Ich fragte mich, was die Kreationisten wohl von dieser Theorie halten würden: dass der eigentliche Zweck der Evolution nur darin bestand, Gott zu erschaffen.
    Während ich die Rankenfußkrebse betrachtete, fischte B. nach einem großen Stein, den ich immer wieder für sie ins Meer warf. Dazwischen trug sie ihn so stolz im Maul, als wäre es ihre ureigene wichtige Aufgabe, genau diesen Stein herumzutragen. Tiere kamen in Newmans Jenseits offenbar gar nicht vor. In dem von Platon allerdings schon, erinnerte ich mich. Wenn man die Nase vom Menschsein voll hatte, konnte man die Spindel des Schicksals bitten, doch als Hund oder Pferd oder auch als Spatz wiedergeboren zu werden, um ein weniger kompliziertes Leben führen zu dürfen. Laut Platon hatte sich selbst Odysseus dafür entschieden, sein nächstes Leben als ganz normaler Bürger zu verbringen, weil er definitiv keinen Nerv für weitere Abenteuer hatte. Doch Newman klang mir nicht gerade wie ein Freund des beschaulichen Lebens. Was war eigentlich so schlimm daran, herumzusitzen und Pizza zu mampfen, wenn man selbst glücklich dabei war und sonst niemandem schadete? War das denn schlechter, als beispielsweise einen Drachen zu töten und eine Jungfrau zu erretten? Mich persönlich machte allein der Gedanke an tausend Jahre Abenteuer schon todmüde.
    Nachdem ich noch etwas länger in der Fährenschlange gewartet hatte, wäre ich fast im Stehen eingeschlafen, und so begann ich mit dem «Wasserrad», einer Atemübung, die ich vor langer Zeit gelernt hatte. Um dem Atem die Form eines Wasserrads zu geben, atmet man durch die Nase ein, stellt sich dabei aber vor, dass die Atemluft vom Steiß her in den Körper gelangt. Man führt sie die Wirbelsäule hinauf, hält sie kurz vor der Kehle eine Sekunde an und lässt sie dann vorne am Rumpf entlang wieder nach unten rauschen, wo sie ungefähr auf Höhe des Nabels entweicht. Nach einiger Zeit löst das Wasserrad eine Empfindung aus, als würde man gleichzeitig ein- und ausatmen und als wäre die Luft wie Wasser, das einen ständig umfließt. Die Übung wirkt zugleich entspannend und belebend.
    Ich hatte das Wasserrad mit acht Jahren kennengelernt. Es war Anfang Oktober 1978, und meine Schule hatte aufgrund von Streiks schließen müssen. Wir hatten in dem Jahr keinen Urlaub gemacht, weil mein Bruder Toby gerade erst zur Welt gekommen war. Doch eines Tages sagte mein Vater ganz unvermittelt, halb zu mir und halb zu meiner Mutter: «Meg würde gern in Urlaub fahren, stimmt’s, Schatz?» Gleich am nächsten Tag stiegen wir in unser altes Auto und fuhren nach Suffolk. Anfangs war es allerdings kaum Urlaub für mich. Meine Mutter war mit Toby beschäftigt, und mein Vater saß an einem wichtigen Vortrag und machte sich Sorgen wegen seines Antrags auf Beförderung. Wir hatten ein Häuschen am Waldrand gemietet – oder vielleicht auch von jemandem umsonst bekommen. Ich hockte die ersten paar Tage nur auf dem Bett und las Bücher über Kinder, die in die Ferien fahren und dabei auf Räuber in Höhlen, verwunschene Schlösser oder ein Burgverlies mit einem verborgenen Schatz stoßen. Meine Eltern forderten mich hin und wieder auf, doch nach draußen an die frische Luft zu gehen; ich hatte aber den Eindruck, dass es sie nicht weiter interessierte, ob ich der Aufforderung nachkam. Als mir die Bücher ausgingen, machte ich mich von

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