Das Ende der Geschichten (German Edition)
Wasser?
Die Ochsen haben’s getrunken.
Und sag, wo sind die Ochsen?
Auf den Berg sind sie gegangen.
Und sag, wo ist der Berg?
Zernagt ist er von den Würmern.
Und sag, wo sind die Würmer?
Die Gänse haben sie gefressen.
Und sag, wo sind die Gänse?
In den Wacholder sind sie gegangen.
Und sag, wo ist der Wacholder?
Die Mädchen haben ihn gebrochen.
Und sag, wo sind die Mädchen?
Verheiratet sind sie alle.
Und sag, wo sind ihre Männer?
Die Männer sind alle tot. »
Als er fertig war, bogen wir uns alle vor Lachen.
«Hört sich fast so an, wie wenn mir einer meiner Autoren erklärt, warum das Manuskript immer noch nicht fertig ist», bemerkte Claudia. Sie strickte so schnell, dass man meinen konnte, sie hätte einen neuen Tanz erfunden.
Vi lächelte nur und schwieg.
«Kannst du das nochmal vorlesen, Frank?», bat ich. «Und dann vielleicht noch ein paar weitere Male? Das ist der perfekte Strick-Rhythmus.»
Am Weihnachtsmorgen hatte ich meine ganze rote Wolle verstrickt und wusste nicht, was ich weiter mit mir anfangen sollte – Claudia regte einen neuen Zeb-Ross-Roman an. Doch als ich die Geschenke von Vi und Frank auspackte, fand ich darin neben einem Moleskine-Notizbuch und einer Neuübersetzung von Tschechows Briefen auch etliche Knäuel einer weichen, türkisfarbenen Wolle und wunderschöne neue Stricknadeln aus Rosenholz. Nach der Bescherung verzehrten wir an dem großen Tisch im Esszimmer ein spätes Mittagessen, und erst am frühen Abend erfuhren wir, dass über dem Pazifik ein Fernsehsatellit abgestürzt war und eine gewaltige Flutwelle verursacht hatte, wodurch die japanische Insel Sofugan, von ihrem englischsprachigen Entdecker «Lot’s Wife» getauft, verwüstet worden war. Vi hatte vor Jahren über die Insel geschrieben, nachdem sie knapp sechs Monate in dem dortigen buddhistischen Kloster verbracht hatte. Weil es im Haus keinen Fernseher gab, hörten wir die Nachricht im Radio. Vi schwieg anschließend stundenlang; sie saß einfach nur still neben mir und strickte. Am Abend des zweiten Weihnachtstags kam sie doch noch auf das schreckliche Ereignis zu sprechen.
«So viele unschuldige Menschen tot, und alles nur wegen ein paar blödsinniger Pomadentöpfe», sagte sie kopfschüttelnd.
Claudia schnaubte. «Ach komm, Vi. Von so was profitiert doch nun wirklich kein Mensch. Es war ein Unfall. Du kannst dir nicht für alles und jedes eine Verschwörungstheorie ausdenken. Die Firma hat selbst bestätigt, was für ein großer Verlust das für sie ist.»
«Das ist wie eine Zugabe zum Kolonialismus», erklärte Vi. «Eine weitere Zugabe. Und ganz bestimmt nicht die letzte. Die Leute applaudieren ja immer weiter.»
«Jetzt komme selbst ich nicht mehr mit, Liebste», sagte Frank. «Das Ding hätte doch überall abstürzen können.»
«Ja, kann schon sein. Aber es liegt doch eine grausige Poesie darin, wenn ein Volk ohne Geschichten ausgerechnet von den sogenannten Helden-Geschichten eines anderen Volkes ausgelöscht wird. Keiner der Menschen, die auf dieser Insel lebten, hat je einem anderen etwas getan oder irgendwen erobert. Aber dann taucht im achtzehnten Jahrhundert ein dahergelaufener Forscher auf und hängt der Insel einen idiotischen Namen an, weil sie ihn an die Salzsäule aus einer Geschichte erinnert, die er kennt. Und jetzt auch das noch. Ein Tod durch Seifenopern und amerikanische Serien!»
«Wie kann eine Nation denn ohne Geschichten sein?», wollte ich wissen.
Vi seufzte. «Okay. Alles in allem glaube ich ja gar nicht, dass ein Volk ohne Geschichten sein kann. Nur eine Geschichte kann keine Geschichte haben. Und auf Lot’s Wife gab es durchaus Geschichten, in letzter Zeit allerdings fast nur Zen-Geschichten. Das sind jedoch Geschichten ohne Geschichten, weil sie ja gerade dabei helfen sollen, sich von all den Dramen, von Hoffnungen und Sehnsüchten zu lösen. Manche sind richtig komisch. Und alle enden völlig unvorhersehbar. Das sind keine Tragödien, keine Komödien oder Epen. Es sind nicht einmal Geschichten von modernen Anti-Helden, auch keine experimentellen Erzählungen oder Metafiktionen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft mich dort jemand fragte: ‹Soll ich dir mal eine Geschichte erzählen?›, und dann eine Art absurdes Gedicht deklamierte, ohne Konflikt und ohne Auflösung. In einer dieser sogenannten Geschichten ging es um einen Zen-Mönch, der am Tag seines Todes Postkarten verschickt, auf denen steht: ‹Ich scheide aus dieser Welt. Dies ist meine letzte
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