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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Mitteilung.› Und anschließend stirbt er.»
    «Ist das nicht eher eine Frage der Definition?», meinte Claudia. «Sie haben ja offensichtlich nicht das erzählt, was wir unter ‹Geschichten› verstehen. Wenn wir einmal festgelegt haben, dass eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss, die deterministisch zusammenhängen, und dazu noch mindestens eine Hauptfigur, dann kann natürlich nicht einfach jemand daherkommen und behaupten, alles, was irgendwer irgendwann sagt, wäre eine Geschichte.»
    «Wie wäre es denn, wenn wir den Begriff ‹Geschichte› noch einmal ganz neu definieren?», schlug Frank vor. «Vielleicht ist eine Geschichte ja einfach nur jede beliebige Darstellung agierender Akteure. Vielleicht ist das schon alles, was eine Geschichte ausmacht, und die Form der Erzählung, ihr innerer Zusammenhang, die Art, wie sie gute und böse Figuren entwickelt, und alles Weitere ist nur von der jeweiligen Kultur abhängig.»
    «Genau», stimmte Vi ihm zu. «Ich danke dir, Liebster. Diese Strukturalisten, die sowieso bis zum Abwinken mit ihrer Universalität der Heldenreise daherkommen, ziehen auch immer die Geschichte von Buddha heran, nur weil der drei beschissenen Missständen begegnet, sich daraufhin auf eine Reise begibt und am Ende die Erleuchtung findet. Aber kein Mensch schert sich um die chinesische Geschichte vom Affen. Das ist ebenfalls eine buddhistische Geschichte; nur ist hier der Held eine ziemlich dumme Schelmenfigur, die alles falsch macht und nie die richtigen Fragen stellt, am Ende aber genauso erleuchtet ist. Und sie kümmern sich auch nicht um den polynesischen Schelm, den Trickster Maui, der der Sage nach immerhin den Großteil von Neuseeland aus dem Meer gefischt hat, und zwar mit dem Kieferknochen seiner Großmutter. Maui stirbt am Ende, als er in den Körper der Göttin des Todes, Hine-nui-te-po, einzudringen versucht, und zwar durch ihre Vagina, die voller Zähne ist. Dabei ist er doch auch irgendwie ein Held, der – ha, ha! – in eine verborgene Höhle vordringt und damit der Menschheit die Unsterblichkeit sichern soll. Auf seiner großen Heldenreise hat er ein paar Vögel als Gefährten mitgenommen, und einer von ihnen, der Piwakawaka oder Fächerschwanz, lacht Maui aus, woraufhin die Göttin wach wird und Maui zwischen ihren Beinen zermalmt. Das alles sind Geschichten ohne Geschichten, weil sie nämlich weder aristotelisch sind noch claudianisch .» Vi bedachte ihre Schwester mit einem Lächeln, als wäre jetzt sie an der Reihe, die Fehler in Claudias selbstgestrickter Decke zu finden. «Wenn wir Franks Definition folgen, sind es zwar auch Geschichten, aber sie stellen uns nicht so zufrieden, wie wir das hier im Westen von einer ordentlichen Geschichte erwarten. Und sie veranlassen uns dazu, noch einmal darüber nachzudenken, was wir überhaupt unter einer ‹Geschichte› verstehen.»
    «Aber ist das nicht im Grunde eine ganz normale Tragödie?», wandte ich ein. «Kein Held kann es jemals schaffen, Unsterblichkeit zu erringen. Da ist zu viel Hybris im Spiel.»
    «Stimmt.» Vi nickte. «Ich weiß schon, was du meinst. Aber diese Geschichte verarscht allein durch ihren Aufbau die Tragödie nach Strich und Faden, weil sie nämlich so komisch und absurd ist, wie eine Tragödie niemals sein darf. Für mich ist das ein Hauptmerkmal der Geschichtenlosigkeit: Alle Strukturen enthalten von vornherein die Möglichkeit ihrer eigenen Nicht-Existenz – eine Art Reißverschluss, der sie auseinanderfallen lässt.» Sie grinste. «Die Geschichte ohne Geschichte ist eine Vagina dentata .»
    ***

Auch am Montagmorgen war im Fluss weit und breit nichts von Libbys Wagen zu sehen. Ich hatte Zeit genug, danach Ausschau zu halten, weil ich eine halbe Stunde lang in der Schlange vor der Fähre warten musste. Wie immer war ich auf dem Weg in die Bibliothek, um dort meine Rezension über die Wissenschaft vom ewigen Leben zu schreiben und anschließend zumindest zu versuchen, mit meinem Roman weiterzukommen. Ich war unausgeschlafen, doch immerhin fror ich nicht, weil mein neuer türkisfarbener Schal mich warm hielt. Als Christopher um fünf aufstand, war auch ich wach geworden und hatte danach nur noch gedöst, bis er aufgebrochen war. Ich erinnerte mich noch, dass ich im Traum immer und immer wieder Kelsey Newmans Worte Sie sind bereits tot gehört hatte und vom Omegapunkt verfolgt wurde, der die Gestalt eines bläulichen Zeichentrickfilm-Unholds angenommen hatte, «Ha ha !»

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