Das Ende der Geschichten (German Edition)
selber auf, den Wald zu erkunden. Vielleicht wollte ich ja auch so ein Abenteuer erleben wie die, von denen ich gelesen hatte. Oder aber ich brauchte tatsächlich ein bisschen frische Luft.
Jeden Morgen machte ich mir Brote mit Käse und Gürkchen und eine Thermosflasche Tee zurecht, dann streifte ich den ganzen Tag durch die Gegend und überlegte mir, was ich wohl tun würde, wenn ich tatsächlich auf eine Fee traf oder einem Ungeheuer in seiner Höhle begegnete. Meinem Vater würde ich ganz sicher nichts davon erzählen. Der Herbst war frisch und golden. Frühmorgens glitzerten weiße Tautropfen an den Spinnweben, die zwischen den niedrigen Ästen der Bäume hingen, und die hellen Lieder der Rotkehlchen und Drosseln schallten durch den Wald. Auf den Zweigen der silbrig-grünen Kiefern sprossen Zapfen, jeder wie ein kleiner Kosmos in dem Multiversum, von dem mein Vater manchmal sprach. Auf dem Waldboden entdeckte ich hin und wieder leuchtend rot-weiße Fliegenpilze, die so plötzlich emporgewachsen waren wie der sonntägliche Yorkshire-Pudding meiner Mutter. Und auch überall sonst standen verschiedene Sorten Pilze: Einige lagen wie riesige, saftige Pfannkuchen am Fuß der Baumstämme, andere waren winzig klein und ihre Stiele dünn wie Spaghetti. Später am Tag wurden die Spinnweben in der tiefstehenden Sonne fast durchsichtig, und ich bemerkte sie eigentlich nur wegen der Spinnen, die nun wie Zellkerne in ihrer Mitte hockten. Einmal beobachtete ich, wie eine Spinne eine Wespe fing. Ich konnte Wespen nicht ausstehen, deshalb freute ich mich sehr, als diese schläfrig schwankend von mir abließ und mitten im Spinnennetz landete. Sofort war auch die dicke Spinne zur Stelle und machte sich daran, die Wespe mit ihrer weißen Seide zu umwickeln. Anfangs wehrte sich die Wespe, und ich hatte doch ein wenig Mitleid mit ihr. Aber bald bewegte sie sich nicht mehr. Die Spinne arbeitete eifrig weiter und hüllte die Beute in einen Kokon; ihre dünnen, schartigen Beine bewegten sich hierhin und dorthin, präzise wie die Nadeln einer Nähmaschine. Dann nahm sie die Wespe zwischen die Vorderbeine und beförderte sie vorsichtig hinauf bis zur Mitte ihres Netzes, so wie eine Menschenmutter ihr neugeborenes Baby trägt. Ich beobachtete sie noch eine ganze Zeit lang, doch es geschah nichts weiter, und als ich am nächsten Tag wiederkam, war das Netz verschwunden. Irgendwann fand ich ein Stück Schnur in unserem feuchten, knarzigen Ferienhaus und bastelte mir daraus einen Schulterriemen für meine Thermosflasche. Im Wald machte ich mir Halsketten aus wilden Blumen, indem ich den Stiel der einen mit dem Daumennagel durchbohrte und den der nächsten hindurchfädelte wie bei einer Gänseblümchenkette. Ich futterte Brombeeren direkt vom Strauch, bis meine Hände vom Saft dunkelrot waren. Ich kämmte mir die Haare nicht mehr. Ich war ein Kind der Wildnis geworden, und niemandem schien das aufzufallen.
Eines klaren, kühlen Nachmittags folgte ich einem Bachlauf und kam an ein reetgedecktes Steinhäuschen, das aussah, als wäre es geradewegs im Wald gewachsen. Es war ganz von dichtem, dunkelrotem Efeu überwuchert, der nur die Fenster und die Tür freiließ, und sah aus wie eines der Bilder, die man in der Schule zu malen versucht, weil man sie schon einmal in einem Bilderbuch gesehen hat. Ein Stück vor dem Gebäude gab es ein Gatter, das sich ganz leicht öffnen ließ, und ich betrat einen Garten mit einem kleinen Brunnen darin. Hinter dem Häuschen befand sich eine schmiedeeiserne Laube, ebenfalls mit Kletterpflanzen bewachsen und überschattet von hohen, alten Bäumen. Drinnen standen zwei hölzerne Schaukelstühle und ein Holztisch mit sechs Tassen darauf. Ein Mann arrangierte Blumen in den Trinkgefäßen. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der Blumen arrangierte. Im Grunde kannte ich überhaupt niemanden, der so etwas tat.
«Ah! Eine junge Abenteurerin», sagte er zu mir. «Na, steh mal nicht da rum und halt Maulaffen feil. Hilf mir lieber.»
Ich kam ein bisschen näher heran. Er war klein, hatte einen gewaltigen Bart, der braun war wie Baumrinde, und sah aus, als wäre er, so wie alles andere auch, einfach aus dem Wald herausgewachsen. Er trug leuchtend blaue Wildlederstiefel und eine verblichene rote Hose, und seine Weste war ebenfalls aus blauem Wildleder. Ich mochte dieses Blau. Es war fast derselbe Ton wie das Haarband, das ich trug.
«Halt die mal», forderte er mich auf und drückte mir ein paar Blumen in die Hand.
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