Das Ende der Geschichten (German Edition)
der seltsamen Gegenstände auf der Kommode gewöhnt, darunter auch ein Flaschenschiff, das mich besonders faszinierte. Ich fragte mich, wie das Schiff wohl in die Flasche gekommen war. Durch den Hals konnte es ja kaum gepasst haben. Vielleicht war ja auch das Zauberei? Einmal, als Ruprecht beim Pilzesuchen war, hatte ich die Flasche in die Hand genommen und mir das Schiff ganz genau angeschaut. Seine Segel waren aus weißem Musselin, und auf dem Rumpf stand mit weißen, kreidigen Buchstaben etwas geschrieben. Als ich genauer hinsah, konnte ich den Namen entziffern: «Cutty Sark». Das Schiff trieb in einem blauen Meer aus Wachs, und die Flasche war mit einem Korken verschlossen. Am liebsten hätte ich an dem Korken gezogen, um zu sehen, ob er sich vielleicht herausnehmen ließe, doch ich beherrschte mich.
«Glaubst du denn, du hast bereits die Fähigkeiten, um zaubern zu lernen?», fragte mich Ruprecht jetzt.
«Ja», antwortete ich ernst. «Das glaube ich.»
Er lächelte. «Ich glaube das auch. Und Bethany ebenfalls. Nicht jeder sieht Bethany, musst du wissen.» Er betrachtete seine Hände. «Manche denken ja, man müsste erst initiiert werden, um zaubern zu können, und das Verhältnis zwischen der Welt der Geisterwesen, dieser Welt sowie der Welt über uns begreifen, ehe man auch nur einen Zauberspruch aussprechen darf. Es ist eine große Verpflichtung, und wenn man die Tore zur Anderswelt einmal aufgestoßen hat, kann man nicht mehr zurück. Ich glaube allerdings, dass man auch für sich allein schon recht viel zaubern kann. Man könnte auch sagen, dass man jedes Mal bereits zaubert, wenn man etwas kocht oder jemandem Medizin verabreicht, weil man den Zustand der Dinge ändert, indem man ihre Energie umlenkt.»
Ich kaute an der Unterlippe. «Aber das ist doch keine richtige Zauberei, oder?»
«Das hängt ganz von der Perspektive ab. Du musst begreifen, dass es bei gutem Zauber immer darum geht, Harmonie in die Welt zu bringen und keine Unordnung. Und du musst auch akzeptieren, dass jeder Zauber Konsequenzen hat. Verstehst du, was ich dir sage?»
Ich schüttelte den Kopf. «Meinst du, dass man dann Ärger kriegt?»
«Wenn du zauberst, leitest du immer auch Energie um. Du kannst dich dazu entschließen, heilende Energie zu bündeln und sie jemandem zu schicken, der krank ist, oder aber du nähst einfach einen Glücksbringer in die Patchworkdecke ein, die du gerade für eine Freundin machst. Doch du darfst nichts davon jemals leichtfertig tun, weil du damit jedes Mal Energie von anderswo abziehst. Je nachdem, was für eine Art Zauber du aussprichst, rufst du normalerweise die Geister der Unterwelt zu Hilfe, die Feen und Elfen, manchmal auch die Geister der Mittelerde oder die höheren Wesen, die zwischen den Sternen tanzen. Du kannst beispielsweise den Herrn und die Herrin von Mittelerde bitten, dir bei der Heilung einer kranken Katze zu helfen, oder eine Fee, dich bei der Deutung eines Traumes zu unterstützen. Manche Menschen glauben, dass diese Zauberwesen und Gottheiten tatsächlich existieren. Andere halten sie für Manifestationen einer Energie, die wir nur metaphorisch, als Bilder und Geschichten, begreifen können. Doch so oder so musst du immer, wenn du die Geisterwesen bei einem Spruch oder einem Zauber um Hilfe bittest, eine Gegenleistung erbringen. Das kannst du tun, indem du die Vögel im Garten fütterst oder ein paar neue Blumen pflanzt. Feen und Elfen lieben die Natur. Sie kommen heute kaum noch in unsere Welt, weil wir der Natur so viel angetan haben. Und wenn du nicht hältst, was du versprochen hast … Nun, ich kann mich nur wiederholen: Es ist recht einfach, das zu tun, was du ‹zaubern› nennst, und damit die Energie in neue Bahnen zu lenken; aber es hat immer Konsequenzen.» Er runzelte die Stirn und lächelte dann. «Ach herrje. Du kannst mir schon längst nicht mehr folgen, stimmt’s? Bethany hat schon gesagt, du seist noch viel zu jung. Vielleicht hat sie ja recht damit.»
Ich schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht zu jung.» Doch ich musste zugeben, dass mir das alles Sorgen machte. Von «Konsequenzen» hatte ich schon eine ungefähre Vorstellung. Sie waren grundsätzlich schlimm: Man verbrannte sich die Finger, weil man mit Streichhölzern gespielt, wurde überfahren, weil man am Zebrastreifen nicht richtig aufgepasst hatte, oder man wurde auf sein Zimmer geschickt, mit einem Pantoffel versohlt oder zu einer Strafarbeit verdonnert. Wenn es Konsequenzen haben würde, schien mir
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