Das Ende der Geschichten (German Edition)
schickte mir Oscar keine solchen Bücher. Wir rezensierten Populärwissenschaft, so schräg sie auch sein mochte, lehnten aber grundsätzlich alles ab, was unter Esoterik fiel. War dieses Buch esoterisch? Schwer zu sagen. Laut Klappentext war Newman ein angesehener New Yorker Psychoanalytiker, der angeblich sogar einmal einen Präsidenten therapiert hatte, auch wenn man nicht erfuhr, welchen. Zu seinem Buch hatte ihn das Werk des ebenfalls hochangesehenen Physikers Frank Tipler inspiriert, der die Idee mit dem Omegapunkt entwickelt und alle nötigen Berechnungen durchgeführt hatte, um zu beweisen, dass du und ich – sowie sämtliche Menschen, die jemals gelebt, und dazu noch sämtliche potenziellen Menschen, die niemals gelebt haben – am Ende aller Zeit wiederauferstehen werden, sobald die dafür nötige Kraft zur Verfügung steht. Der Tod ist also nichts weiter als ein kurzer Schlaf, und man merkt selber kaum, wie viel Zeit verstrichen ist, bis man in der Ewigkeit wieder aufwacht.
Aber wenn das stimmte, wozu machte man sich dann eigentlich noch all die Mühe mit so vielen Dingen? Wozu versuchte man, eine bekannte Romanautorin zu werden? Wozu bezahlte man noch Rechnungen, rasierte sich die Beine und versuchte, immer genug Gemüse zu essen? Wenn diese Theorie zutraf, war es doch sehr viel vernünftiger, sich gleich zu erschießen. Aber was dann? Ich liebte das Universum, vor allem seine reizvolleren Bestandteile wie die Relativität, die Schwerkraft, die Up-Quarks und die Down-Quarks, die Evolutionstheorie und die Wellenfunktion, die ich schon fast verstanden hatte. Aber so sehr, dass ich über sein natürliches Ende hinaus weiterexistieren, mit allen anderen in einer Art Koma festsitzen und von irgendeinem kosmischen Apparat abhängen wollte, der uns alle am Leben erhielt – so sehr liebte ich es nun auch wieder nicht. Ich hatte einmal gesagt bekommen (und in letzter Zeit wieder öfter daran denken müssen), dass ich am Ende vor dem Nichts stehen würde. Was in aller Welt sollte ich mit so viel Himmel anfangen? Ewig weiterleben – das war doch wie eine Ehe mit sich selbst, nur ohne die Möglichkeit, sich jemals scheiden zu lassen.
***
Bis zur Straße hinunter waren es einunddreißig steinerne Stufen. B. und ich gingen an Regs Eckhaus vorbei und überquerten den Marktplatz, wo weit und breit niemand zu sehen war, nur eine einzelne Möwe, die an einer weggeworfenen Pommestüte herumpickte und dabei dasselbe Geräusch machte wie alle ihre Artgenossen auch: Keck-keck-keck! Wie eine einsame Maschinenpistole. Am Butterwalk, gleich neben Miller’s Deli, drückte B. sich dicht an der Wand entlang, und sobald wir die Royal Avenue Gardens betreten hatten, hockte sie sich zum Pinkeln hin. Alles schien geschlossen, kaputt, tot oder im Winterschlaf zu sein. Der Musikpavillon war verlassen, der Brunnen versiegt. Die Palmen fröstelten. Der Wind brachte einen salzigen Geruch wie nach Seetang mit sich, der stärker wurde, je näher wir dem Fluss kamen. Kein Mensch war zu sehen. Es wurde bereits dunkel, und über Kingswear verfärbte sich der Himmel zu einem matschigen Gemisch aus Grün, Braun und Lila, wie eine faulende Apfelschale. Vom Meer her wehte der Wind heran, und all die kleinen Schiffe tanzten wie von Zauberhand bewegt an ihren Anlegestellen und gaben geisterhafte Laute von sich.
Ich zog die Kapuze meines Anoraks über, und B. schnüffelte herum. Sie stattete gern der Reihe nach jeder einzelnen Bank am Nordufer einen Besuch ab, um anschließend den kleinen, allgemein «Boat Float» genannten Hafen zu umrunden und durch den Coronation Park den Heimweg anzutreten. Im Winter war sie träger und schläfriger als sonst, und zu Hause fand ich sie immer wieder zusammengerollt im Bett zwischen den Kissen, als wollte sie Winterschlaf halten. Doch kaum waren wir draußen, spulte sie ihr übliches Programm ab. Und jeden Tag blieben wir stehen, um uns die geheimnisvolle Baustelle im Coronation Park anzuschauen. Die alte Mary aus Libbys Strickkurs hatte im Herbst erzählt, dass dort auf einem leicht erhöhten, aufwendig gestalteten Rasenstück ein kleines, steinernes Labyrinth mit Blick auf den Fluss entstehen sollte. Bisher war aber immer noch nichts weiter zu sehen als ein Loch. Die Stadtverwaltung hatte beschlossen, das Projekt zu finanzieren, weil es irgendeiner Studie zufolge angeblich beruhigend auf die Menschen wirkte. Dabei war Dartmouth ohnehin ein verschlafener Zufluchtsort für Leute, die einen ruhigen
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