Das Ende der Geschichten (German Edition)
ein bisschen spät dran mit dem Rezensieren, aber doch keine zwei Jahre. Wo hast du das denn ausgegraben?»
«Du hast es mir doch geschickt. Oder?»
Offensichtlich nicht.
«Red kein Blech», erwiderte Oscar. «Bei euch Schriftstellern gerät irgendwann die Fiktion mit der Realität durcheinander, das habe ich immer schon gesagt. Aber mach dir keine Sorgen, diesmal erkläre ich dich noch nicht für verrückt. Kommt ja nicht zum ersten Mal vor, dass jemand das falsche Buch rezensiert. Das Buch, das ich dir tatsächlich geschickt habe, brauchst du dann übrigens nicht mehr zu machen. Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät, und für die nächsten paar Wochen müssen wir sowieso einige zusätzliche Anzeigen schalten.»
«Mein Gott, das ist mir jetzt aber peinlich», sagte ich. «Entschuldige. Ich weiß gar nicht, wie … Ich meine, das ist schon seltsam. Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.» Es war mir nicht nur peinlich, es kostete mich nebenbei auch noch vierhundert Pfund – ganz zu schweigen von all der Zeit am Sonntag, die ich gut in meinen Roman hätte stecken können.
«Es ist ja auch ein Jammer, das ist nämlich eine richtig gute Rezension. Aber immerhin hat sie mich auf eine Idee gebracht, die dir auch gefallen könnte. Ich finde, man sollte diese Art Bücher mal etwas genauer unter die Lupe nehmen, schließlich gibt es ja genug Dumme, die sie lesen … Ich habe hier irgendwo die Fahnen vom neuen Kelsey-Newman-Buch rumliegen, das erscheint diesen Monat. Eigentlich rezensieren wir so was ja nicht, aber wo du schon das erste gelesen hast … Wie hieß das noch gleich? Was stand da im Klappentext? Warte mal kurz.» Ich hörte ihn mit Papier rascheln, dann wieder ziehen und die Luft anhalten. «Ah, da ist es ja. Die Zweitwelt . Voll mit Werbesprüchen von irgendwelchen Spinnern … Oh, und einer von deiner Freundin Vi Hayes. Sie sagt, es biete eine ‹Lebensvorlage auf Basis all dessen, was wir aus unseren meistgeliebten Romanen kennen›. Das könntest du doch rezensieren – im selben Stil wie das, was du mir heute geschickt hast. Oder wenn du Lust hast, schicke ich dir all die Esoterik-Selbsthilfe-Lebensvorlagen-Bücher, die ich hier im Regal habe, und du schreibst mir einen längeren Artikel, etwa zweitausend Wörter, über das Phänomen als solches und die Art, wie diese Dumpfbacken schreiben …»
In meinem Hirn meldete sich irgendein verborgener Teil zu Wort und sprach mit betont ruhiger Stimme zu mir, als wollte er mich – vielleicht auch eher mein Ego – wieder von dem schmalen Dachfirst eines sehr hohen Gebäudes herunterlotsen: Sag nein. Sag, dass du eher verhungern willst. Schreib deinen Roman. Verstopf dein empfindliches Ökosystem nicht noch mit einer weiteren Art kommerziellen Schreibens. Sag nein. Nein. Nein. Nein.
«Das ist ja eine großartige Idee», sagte ich. «Also, der Artikel, meine ich. Das wäre …» Ich dachte an meinen letzten Besuch bei Arcturus zurück, einem Laden in Totnes, der Esoterikliteratur und Heilkristalle anbot. Ich wollte ein Geburtstagsgeschenk für Josh kaufen und hatte beschlossen, ein bisschen in den anderen absurden Büchern herumzuschmökern, wo ich schon mal dort war. Damals saß ich gerade am dritten Band meiner Newtopia-Reihe. In den Romanen, die alle etwa fünfzig Jahre in der Zukunft spielen, hat eine Behörde das Unterbewusstsein der Menschen kolonialisiert, sodass jeder zwei Leben hat: eines in der «realen» Welt und ein weiteres in einem Phantasiereich, in das man mit Hilfe eines Chips im Gehirn gelangt. Diese Alternativwelt hat ihre eigene Währung, ihre eigene Mode, ihre eigene Sprache und Tradition. Während man sich vor vielen Jahren noch extra registrieren musste, um dort ein Benutzerkonto zu eröffnen, und selbst entscheiden konnte, ob und wann man sich dort einloggte, haben die Menschen zum Zeitpunkt meiner Romane keine andere Wahl mehr: Jeder wird schon bei der Geburt mit einem entsprechenden Mikrochip ausgestattet. Und außerdem weiß inzwischen auch niemand mehr, dass er oder sie zwei Leben führt. Der eingebaute Chip ist darauf programmiert, die Ruhezeiten des Gehirns maximal auszunutzen, und sobald sich die Gehirnströme auch nur ein wenig verlangsamen – sei es im Schlaf, in der Kaffeepause oder einfach nur in der Zeitspanne zwischen zwei Gedanken –, schaltet er in die Alternativwelt hinüber, die ich Newtopia getauft habe.
Die Idee für die Reihe war mir durch einen Bericht in den Nachrichten gekommen. Er
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