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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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wie? Mir war es ein bisschen peinlich, dass mir solche Diskussionen samt ihrer hübsch ordentlichen narrativen Symmetrie und den kunstvollen Einfällen, mit denen sie dem Vorbild vieler großer Schriftsteller folgten, so viel Spaß machten. Mein eigener Roman, Der Tod der Autorin , dieser verflixte Mühlstein um meinen Hals, besaß ganz bewusst keine solche Symmetrie und hielt mich damit pausenlos in Atem, denn erst hatte er viel zu viel Handlung – Menschen, die heillos verliebt waren, aus dem Koma aufwachten oder irgendwo im Straßengraben lagen und große Veränderungen in ihrem Leben planten und dergleichen mehr, fast schon wie bei einem schablonenhaften Genreroman –, und dann schraubte ich daran herum, und er ging einfach zugrunde wie eine Spezies, die bereits ausgestorben war, bevor es sie überhaupt geben konnte. Damit aber eine neue Spezies entstehen kann, muss sich eine bereits vorhandene in zwei Hälften spalten, und anschließend muss es den Angehörigen der einen Hälfte irgendwie gelingen, genetisch beziehungsweise geographisch unter sich zu bleiben und für die nächsten paar hundert oder tausend Jahre nicht einmal ein Date, geschweige denn Sex mit der anderen Hälfte zu haben. Wenn ich es schaffte, meine Genreliteratur mit all ihren dominanten Genen auf der einen Seite eines hohen Gebirges zu isolieren und meinen Roman auf der anderen, dann hatte der Roman vielleicht noch eine Chance zu überleben. Ich seufzte und bog eine Büroklammer auseinander, die irgendwer – vermutlich ich selbst – auf dem Tisch hatte liegen lassen. Sie brach durch, und ich hielt zwei nutzlose Metallstücke in den Händen. Da ich sie nicht einfach auf den Boden schnipsen wollte, steckte ich sie in die Tasche. Tims Exposé gefiel mir ausgesprochen gut, also schrieb ich eine kurze Mail an Claudia mit dem Vorschlag, es bei der nächsten Lektoratssitzung im März genauer zu diskutieren. Das zweite Exposé handelte von einem Mädchen, das seine Eltern aufisst. Ich lehnte es ab.
    Gegen drei brummte mein Handy. Ich vermutete, dass es Oscar sein würde, der aus der Redaktion anrief. Sicher konnte ich mir allerdings nicht sein, denn mein Handy zeigte mir grundsätzlich nur Unbekannte Anrufer an, ganz gleich, wer anrief. Während ich aus dem Lesesaal eilte, fragte ich mich, was ihm an meiner Rezension wohl nicht gepasst haben konnte. Oscar war erst Anfang fünfzig, tat aber gerne so, als wäre er ein knurriger alter Mann und die Rezensenten seine ungezogenen Enkelkinder oder widerborstigen Haustiere. Er rief nur an, wenn es ein Problem gab, und während des Telefonats hörte man ihn immer rauchen – ein Zug, noch einer, Stille. Dabei hatte ich bei den wenigen Malen, die ich bei ihm im Büro war, nirgends Hinweise darauf gefunden, dass er tatsächlich rauchte.
    «Ich dachte schon, du gehst nicht ran», sagte er in seinem sanften, vernuschelten karibischen Tonfall. «Gerade wollte ich wieder auflegen.»
    «Ich bin in der Bibliothek, und im Lesesaal kann ich nicht rangehen, sonst werden die Bibliothekarinnen fuchsteufelswild und schreien mich an.»
    So begannen unsere Gespräche meistens: Er machte mir Vorwürfe, und ich erzählte etwas Lustiges von den Bibliothekarinnen, die in Wahrheit natürlich nie auch nur irgendetwas Lustiges taten. Gespräche mit Lektoren und Redakteuren hatten immer etwas leicht Alzheimerhaftes, weil alle zu viel dachten und zu viel lasen und nie genau wussten, ob sie sich an diesem Tag nun zum ersten oder zum fünfzehnten Mal mit jemand anderem unterhielten und ob das, was sie sagten, stimmte oder erfunden war. Man erkennt Leute aus der Verlagsbranche ganz leicht daran, dass sie alle Anekdoten grundsätzlich wie zum ersten Mal erzählen und dabei ein Gesicht machen, als hätten sie gerade gemerkt, dass das Taschentuch, das sie einem gereicht haben, bereits benutzt ist.
    «Na, wie auch immer.» Oscar zog an seiner Zigarette und hielt die Luft an. «So was hast du ja nun wirklich noch nie gebracht.»
    «Was meinst du?»
    «Diese Rezension, die du mir vorhin geschickt hast. Was hast du dir denn dabei gedacht?»
    «Gefällt sie dir nicht?»
    «Und ob sie mir gefällt. Sie ist sogar richtig gut. Sehr komisch. Dieser Kelsey Newman ist ja ein totaler Spinner.»
    «Ja, und …?»
    «Tja, diesmal hast du mich jedenfalls echt geplättet», sagte er. «Ihr Schriftsteller seid doch alle gleich.»
    Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich angestellt haben konnte.
    «Das Buch ist von 2006. Wir sind zwar schon mal

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