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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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vertragen, vor allem angesichts der Tatsache, dass ich ständig welche eliminierte. Ich glaubte fest an Schichten und widmete ihnen in meinen Workshops einen vollen Tag, um den Teilnehmern klarzumachen, dass ein Roman niemals nur aus einem Handlungsstrang, sondern aus vielen ineinander verschachtelten Schichten bestand. Ein ethnographisches Projekt – im Roman konnte ich diesen Aspekt ja noch genauer ausarbeiten – würde meiner Protagonistin Unternehmungen erlauben, zu denen sie sich sonst niemals aufschwingen würde, und das war auf jeden Fall ein Vorteil. In letzter Zeit kriegte ich sie ja kaum mehr aus dem Haus. Vielleicht konnte ich sie ja zur Anthropologin machen, die jeden Exotismus ablehnt und daher beschließt, ihre Heimatstadt ethnographisch zu erforschen: Das gab mir einen Vorwand, sie am Leben teilnehmen zu lassen, ohne dass ich mich mit Schauplätzen im Regenwald und fremden Stämmen herumschlagen musste. Aber so etwas gab es doch mit Sicherheit schon. Vor längerem war mir auch klar geworden, dass ich unbedingt eine Liebesgeschichte brauchte, doch meine Protagonistin wollte sich einfach nicht in ganz normale Menschen verlieben. Ein älterer Mann vielleicht?
    Ich beschloss, mir ein paar Notizen zu machen, doch nachdem ich meinen Füller aufgeschraubt hatte, saß ich einfach nur da, den Stift über dem Papier, und wartete, bis das Telefonat mit Oscar aus meinen Gedanken abgeflossen war. Ich hatte die Hoffnung, danach endlich arbeiten zu können, doch stattdessen fand ich darunter jede Menge Sedimente, die alle auf folgende Fragen hinausliefen: Wo zum Teufel war das Kelsey-Newman-Buch bloß hergekommen? Und wie in aller Welt hatte ich es fertiggebracht, ein Buch zu rezensieren, das Oscar mir gar nicht geschickt hatte? Im Lauf der Zeit hatte ich einige Rezensionen auf die eine oder andere Art in den Sand gesetzt, aber das falsche Buch rezensiert hatte ich noch nie. Ich seufzte. Vielleicht hatte Vi es mir ja geschickt. Das war nicht sehr wahrscheinlich; ich bezweifelte ernsthaft, dass Vi mir überhaupt je wieder etwas schicken würde. Aber wenn sie einen Werbetext für den Schutzumschlag des Fortsetzungswerks geschrieben hatte, musste sie Kelsey Newmans Theorien immerhin gelesen haben. Wie kam sie überhaupt dazu, einen solchen Werbetext zu schreiben? Das war doch eigentlich genau die Sorte von Büchern, die sie nicht ausstehen konnte. Aber wie hätte der Zettel von Oscar in das Buch hineinkommen sollen, wenn Vi es mir geschickt hatte? Den ganzen Nachmittag über brummte mein Handy immer wieder, und wer immer da anrief, hinterließ sogar Nachrichten. Doch ich hatte einfach nicht mehr genug Guthaben, um die Mailbox an- oder jemanden zurückzurufen.
    ***
    Am Abend des zweiten Weihnachtstags in Schottland waren wir alle früh schlafen gegangen. Die Diskussion über die Zen-Geschichten drohte verbissen zu werden, außerdem waren wir alle noch ziemlich fertig wegen der Zerstörung von Lot’s Wife, vor allem, als Vi auch noch anfing, uns von Bekannten aus dem Kloster zu erzählen, an die sie sich erinnerte. Am nächsten Tag ging ich in der Frühe mit Frank und Vi an den Strand. Vi setzte sich auf einen Felsen und blickte aufs Meer hinaus; Frank machte unterdessen T’ai Chi. Ich setzte mich auf einen anderen Felsen und sah ihnen zu. Nach einiger Zeit zog Vi sich aus bis auf einen alten, rot-weiß gestreiften Badeanzug, kreischte auf und rannte dann, immer weiter kreischend, in die eiskalten Wellen hinein. Dort zappelte sie ein paar Minuten lang herum wie ein Goldfisch auf dem Jahrmarkt, ein ganz besonders seltenes Exemplar, das ununterbrochen quiekte: «Au Mann, ist das kalt, scheiße nochmal, so was von scheißkalt!» Dann ging sie zu einer Schwimmbewegung über, einer Art umgekehrten Schmetterlingsstil, die zugleich albern und elegant aussah. Ich wusste, dass Vi so auf ihre ganz eigene Weise eins mit dem Universum wurde – und das Universum dadurch ebenfalls albern und elegant zugleich. Mir selbst schien eine solche Verbindung unmöglich. Wenn ich versuchte, eins mit dem Universum zu werden, würde es mich, davon war ich überzeugt, auf dieselbe Weise abwehren, wie das Meer die Schiffe wieder ausspie, deren Gerippe am Ufer verstreut lagen.
    «Alles klar?», rief Frank zu mir herüber.
    «Ja», antwortete ich. «Mir ist nur ein bisschen kalt. Vor allem, wenn ich mir Vi so ansehe. Da kriege ich gleich eine Gänsehaut.»
    «Willst du ein bisschen mitmachen?», fragte er.
    «Wie? Beim Tai-Chi?»
    «Ja. Komm,

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