Das Ende der Geschichten (German Edition)
keine zweidimensionalen Objekte, es kann sie gar nicht geben: So dünn etwas auch sein mag, es hat doch immer drei Dimensionen im Raum. Ich hatte die halbe Rezension auf die Erklärung verwandt, warum die Erfahrung einer zweidimensionalen Welt schlichtweg unmöglich war, erst recht, wenn man dabei von einer dreidimensionalen Schinkenwelt ausging. Justine hatte dazu ein hübsches Bild von einem ganzen Schinken ausgegraben, das sie dann neben ein Foto der Autorin montiert und mit der Bildunterschrift «Die Welt ist kein Schinken» versehen hatte. Ich wusste noch genau, wie ich meinen Text immer und immer wieder durchgelesen hatte, aus Angst, irgendetwas falsch formuliert zu haben, und wie nervös ich gewesen war, weil ich eine echte Wissenschaftlerin wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit kritisierte. Wochenlang hatte ich Angst, dass sie mir mailen und mir den Kopf waschen würde. Doch nichts geschah. Außerdem hatte ich mir noch ausgemalt, dass mein Vater die Rezension lesen und stolz auf mich sein würde; doch soweit ich wusste, las er den Literaturteil einer Zeitung grundsätzlich nicht.
Die Newman-Rezension fiel mir um einiges leichter, als ich erwartet hatte. Letztendlich fasste ich einfach nur seine Argumente zusammen, denn wie fast alle langen, komplizierten Angelegenheiten – inklusive großer Tragödien und der eigenen Lebensgeschichte – klangen sie sehr viel verrückter und unwahrscheinlicher, wenn man sie auf achthundert Wörter zusammenstutzte, als es auf dreihundert Seiten jemals möglich war. Das Buch verriss sich praktisch selbst. Ich redete mir ein, dass ich froh war, es hinter mir zu haben: Newmans simuliertes Post-Universum, ein Geisterschiff am Ende der Zeit, wurde mir zusehends unheimlich. Doch in Wahrheit hatte ich Newman natürlich überhaupt noch nicht hinter mir, denn ich spielte ja mit dem Gedanken, seine Thesen im literarischen Kontext noch weiter zu verreißen. In einem Zeb-Ross-Roman konnte man das Post-Universum natürlich nicht unterbringen, aber in meinem «echten» Roman würde es sich als untergeordneter Handlungsstrang bestimmt gut machen. Schließlich war es sehr viel origineller, ein paar Figuren in einem endlosen Augenblick am Ende der Zeit festsitzen zu lassen, als sie in eine Sauna zu sperren.
Nachdem ich die Rezension abgeschickt und in dem billigen Café gleich gegenüber zu Mittag gegessen hatte, war es bereits halb drei. Ich loggte mich in mein E-Mail-Konto bei Orb Books ein und überflog die beiden Zeb-Ross-Exposés, die neu eingereicht worden waren. Das eine stammte von Tim Small, einem verblühten Mittvierziger, an den ich mich vom letzten Workshop in Torquay noch gut erinnern konnte. Er war vor zehn Jahren nach Dartmouth gezogen, zusammen mit seiner Frau Heidi, die im Jachtclub als Buchhalterin arbeitete und seit Jahren eine Affäre hatte. Die Anwohner, die auf meine Plakate im Buchladen reagierten, nahmen immer nur sechs Tage am Workshop teil. Am siebten Tag arbeitete ich mit jedem Ghostwriter einzeln an seinem jeweiligen Projekt, ob das nun ein Zeb-Ross-Buch war, ein Pepper-Moore-Roman oder eine weitere Folge der Vampire-Island-Serie. Aber die ersten sechs Tage waren für alle gleich: Platon, Aristoteles, Wladimir Propp, Northrop Frye, Joseph Campbell, Jung und Robert McKee im Schnelldurchlauf. Jeder Teilnehmer bekam eine eigene Orb-Books-Schere von mir, weil es so viel Papier zu zerschneiden und neu anzuordnen gab und so viel mit Archetypen, Komplikationen, Auflösungen und Helfern herumhantiert werden musste. Das mit den Scheren war meine Idee gewesen, genau wie die Vampire-Island-Serie, mit der ich allerdings gar nicht mehr viel zu tun hatte.
Tim war der Einzige unter den ortsansässigen Teilnehmern gewesen, dessen Idee tatsächlich das Potenzial hatte, im Zeb-Ross-Format zu funktionieren. Er wollte über eine «Bestie vom Dartmoor» schreiben und hatte sich einen Helden mittleren Alters ausgedacht, der von seiner Frau betrogen wurde. Doch ich nahm ihn beiseite und erklärte ihm, dass wir den Stoff womöglich in Erwägung ziehen würden, wenn er einen Jugendlichen daraus machte. Das ganze Seminar war hellauf begeistert von Tims Bestie. Wie kann ein Roman über eine Bestie enden? Darüber hatten wir stundenlang diskutiert. Laut Tschechow muss eine Pistole, wenn sie in einer Geschichte vorkommt, auch irgendwann abgefeuert werden. Musste man also im übertragenen Sinn auch die Bestie «abfeuern», wenn man sie in einer Geschichte vorkommen ließ? Aber wann? Und
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