Das Ende der Geschichten (German Edition)
handelte von einem fettleibigen Paar, das sich im echten Leben scheiden ließ, weil ihre beiden schlanken Online-Avatare vorhatten, andere schlanke Online-Avatare zu heiraten, hinter denen sich jedoch im richtigen Leben andere fettleibige Menschen verbargen. Ich hatte mir überlegt, was wohl passieren könnte, wenn ein solches Zweitleben irgendwann so normal wurde, dass sich kein Mensch mehr dessen bewusst war. In meinen Newtopia-Büchern stößt die junge Heldin auf die eigentliche Wahrheit, dass nämlich besagte Behörde (die auch nur «Die Behörde» heißt) sich der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Welt bemächtigt hat, und macht sich auf die Suche nach Gleichgesinnten, die ebenfalls Bescheid wissen. Gemeinsam finden sie einen Weg, ihr Unterbewusstsein in den Zellen am äußersten Rand des Mobilfunknetzwerks zu verbergen, was allerdings immer nur für kurze Zeit gelingt, bevor man sie entdeckt. Sie durchleben Abenteuer und Beziehungen über beide Welten hinweg und zahllose Konflikte, die auf unbewusstem Betrug, Verwechslungen, Erweckungserlebnissen und der stetig wachsenden Habgier und Macht der Behörde beruhen. Im dritten Buch wollte ich die Struktur dieser unterbewussten Welt ganz genau erläutern und war auf den verrückten Gedanken verfallen, die Behörde könnte vielleicht auch die Astralebene oder etwas Vergleichbares besetzen. Natürlich kannte ich mich mit solchen Dingen nicht aus, doch bei Arcturus gab es jede Menge Bücher über die Astralebene.
Gleich nach mir betraten zwei Frauen den Laden. Sie durchstöberten ebenfalls kurz die Bücher zur Astralebene, wandten sich dann aber dem Regal über Co-Abhängigkeit und «Zu sehr lieben» zu und den Büchern, die davon handelten, wie man die eigene Aura fotografiert und magische Kräfte entwickelt. «Das kaufe ich dir, Liebes», sagte die ältere Frau zu der anderen, die Anfang dreißig war und wohl ihre Tochter sein musste. Die Tochter hielt bereits drei weitere Bücher in der Hand und kramte in ihrer Brieftasche. «Auf dieser Kreditkarte habe ich noch fünf Pfund Guthaben», verkündete sie, «und auf der hier ungefähr sieben fünfzig. Wenn du mir also das hier auch noch kaufen würdest …?» – «Ich schenke dir zwei davon, Liebes», erwiderte die Ältere. «Und dann fahren wir mit dem Bus nach Hause. Ich weiß ja, wie sehr du sie nötig hast.» Wovon diese vier lebensverändernden Bücher wohl handelten? Ich habe es nie erfahren.
«Jetzt hab ich’s!», sagte ich am Telefon zu Oscar. «Ich schreibe einen persönlichen Erfahrungsbericht.»
«Wie meinst du das?»
«Du schickst mir deine ganzen Bücher, und dann wähle ich vier oder fünf davon aus. Jedes wird mir raten, etwas an meinen Gedanken oder meinem Verhalten zu ändern, und jedes wird mir in Aussicht stellen, dass das mein Leben grundlegend verändert. Ich mache, was die Bücher sagen, und schaue, was passiert. Und dann schreibe ich darüber. Eben so ein durchgeknallter Selbstversuch. Vielleicht auch noch mit ethnographischen Aspekten, falls mir dabei ein paar verrückte Typen unterkommen.»
«Großartig. Das gefällt mir!» Oscar schwieg kurz. «Aber es muss schon witzig sein.»
«Oh, das wird es sicher.»
«Abgabe Anfang April», entschied er. «Von mir aus auch gerne dreitausend Wörter, dann machen wir eine Doppelseite mit Foto draus. Paul fährt gerade voll ab auf Erfahrungsberichte.» Paul war der Chefredakteur.
«Gut. Bestens. Vielen Dank, Oscar. Und entschuldige nochmal das Durcheinander.»
«Schon gut. Ich weiß ja, wie ihr Schriftsteller seid.»
Damit legte er auf. Bevor ich mein Handy wieder einsteckte, prüfte ich mein Guthaben. Noch genau fünfzehn Pence. Immerhin hatte sich mein Irrtum doch noch zum Guten gewendet. Ich hatte vierhundert Pfund und ein Wochenende in den Sand gesetzt, dafür aber etwa eintausendfünfhundert Pfund in Aussicht zuzüglich dessen, was ich noch einnehmen würde, wenn ich die Esoterikbücher anschließend verscherbelte. Unterm Strich würde ich allerdings noch sehr viel mehr Zeit verschwendet haben. Du hättest nein sagen sollen , meckerte mein Gehirn. Aber vielleicht konnte ich die verlorene Zeit ja wettmachen, indem ich das Gelesene irgendwie in meinen Roman einarbeitete. Konnte ich meiner armen, leidgeprüften Protagonistin, die eine Zeit lang ganz metafiktional Meg geheißen hatte, augenblicklich aber namenlos war, auch so ein persönliches, halb ethnographisches Projekt zumuten? Der Roman konnte durchaus weitere Handlungsschichten
Weitere Kostenlose Bücher