Das Ende der Geschichten (German Edition)
Grunde ist das eine richtige Horrorgeschichte, bei der es jemand darauf anlegt, das Leben eines anderen Menschen zu zerstören, wie ein besessener Stalker.»
«Aber nur, wenn man es aus der Perspektive des Mönchs betrachtet», meinte ich.
Wir tranken noch ein bisschen weiter, dann rief mir Claudia plötzlich das Manuskript in Erinnerung, in dem ein junges Mädchen das Gärtnern anfängt und versehentlich lauter fleischfressende Pflanzen züchtet, die dann anfangen, mit ihr zu reden und ihre einzigen Freunde werden. Wir mussten beide schrecklich kichern, während wir versuchten, uns an die schlimmsten Sprüche aus dem Buch zu erinnern: «Wir wachsen bereits seit Anbeginn der Zeit heran, Melissa!» Oder: «Auch du wirst einst das schmackhafte Blut der Schmeißfliege kosten und eine der Unseren werden!»
Da ging Vi plötzlich aus heiterem Himmel auf mich los: «Großer Gott, Meg. Wann wirst du endlich begreifen, dass die Welt viel komplizierter ist als deine schablonenhaften Formeln? Du hast solche Angst davor, die Dinge ernst zu nehmen, da ist es ja kein Wunder, dass du mit deinem richtigen Roman nicht vorankommst.»
Hätte sie nicht gleich am Anfang meinen Namen gesagt, ich hätte geglaubt, das richte sich an Claudia. Zu mir hatte Vi noch nie etwas gesagt, was nicht in irgendeiner Form stützend, liebevoll oder nachsichtig gewesen war. Und meine Reaktion darauf fiel nicht gerade souverän aus.
«Ich habe das alles so satt», gab ich zurück, ohne groß darüber nachzudenken, was ich eigentlich sagen wollte. «Ist dir denn nicht klar, dass praktisch jeder eine Geschichte ohne Struktur zusammenstöpseln kann? Jeder Dahergelaufene kann ein paar zufällige Handlungen aneinanderreihen und irgendwie miteinander verbinden. Kinder machen so was ständig. Die eigentliche Kunst ist das, was Claudia immer sagt: originelle Wege zu finden, das umzusetzen, was Aristoteles uns vorschreibt, und das beschränkt sich keineswegs darauf, einfach nur seine Anweisungen zu befolgen. Es ist verflixt harte Arbeit, eine Wende herbeizuführen, die kein Klischee ist, oder eine Erkenntnis, die sich nicht irgendeinem Zeichen verdankt oder einer ‹plötzlichen Offenbarung› oder etwas anderem, was der Held ohnehin schon die ganze Zeit weiß, sondern der ständig steigenden Aktivität und Spannung des gesamten Handlungsverlaufs. Vielleicht liest du Aristoteles einfach mal wieder, er bringt einem nämlich nicht einfach bei, Geschichten über die berühmten Pomadentöpfe zu schreiben, sondern echte Tragödien, die etwas aussagen. Und ja, die sind irgendwie vorhersehbar. Aber vor allem sagt er doch, das wichtigste Ziel eines Autors müsse es sein, die Menschen, die die Geschichte lesen oder hören, damit zu verblüffen, auch wenn die Geschichte selbst schablonenhaft ist, dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit und dem von Ursache und Wirkung gehorcht. Es ist eine große Kunst, jemanden mit einem Bild in Staunen zu versetzen und dieses Staunen dann noch zu vergrößern, wenn er erkennt, dass er die einzelnen Teile dieses Bilds schon die ganze Zeit vor sich hatte.»
«Aber genau das ist doch der Trick», sagte Vi. «Die Leute in Staunen zu versetzen, obwohl sie immer wieder dieselbe alte Geschichte hören, ist doch auch nicht anders, als ihnen einzureden, dass sie alle zwei Jahre eine neue Küche brauchen und neue Klamotten und einen neuen Look. Aus irgendeinem Grund vergessen Menschen, dass sie das alles schon mal irgendwo gehört haben. Und solche Geschichten verschaffen ihnen doch keine neuen Erkenntnisse. Sie machen nichts in ihrem Leben unvertraut.»
«Und inwiefern verhilft es den Leuten zu neuen Erkenntnissen, wenn man ein paar zufällige Ereignisse zusammenwirft? Um Zufälliges zu erleben, brauche ich nur vor die Tür zu gehen. Das ist doch keine Kunst. Kunst erfordert Kunstfertigkeit.»
«Es sagt ja auch kein Mensch, dass da nichts mehr wäre in dem riesigen Raum zwischen schablonenhafter Erzählung und völlig zufälligen Ereignissen», entgegnete Vi. «Trotzdem ist das Leben da am wenigsten kunstfertig, wo es versucht, einer schablonenhaften Erzählung zu folgen. Findest du nicht auch?»
Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, also sagte ich: «Nein.» Dann hielt ich einen Moment inne, und als sie nichts erwiderte, fuhr ich fort: «Du findest Tschechow doch so großartig …» Ich auch, das wusste sie nur zu gut. «Aber nicht einmal Tschechow hat es fertiggebracht, einen Roman zu schreiben. Das war ihm viel zu schwierig. All seine
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