Das Ende der Liebe
ist, in Cafés, Parks und Einkaufsstraßen, schweift ihr Blick ununterbrochen umher. Ihr Blick heftet sich bald auf diesen, bald auf jenen, erforscht Gesichter, registriert Haare und Kleider. Jede Einzelheit ist ein Zeichen, ein mögliches Indiz.
Ihre Augen schmerzen. Die Menschen bestehen nur noch aus Augen, glasigen, zitternden Magneten in einem wirbelnden Feld.
Sie sind krank vor Hoffnung. Sie leiden an einem furchtbaren Optimismus. Würden sie verzweifeln – »Ich werde nie einen finden!« –, es wäre das erste Zeichen von Genesung. Doch sie verzweifeln nicht. Sie halten das Erscheinen des Erhofften, auf ihren Wegen durch die Welt, jederzeit für möglich. Eines Tages wird es geschehen. Vielleicht morgen, vielleicht gleich.
[69] Der Begegnung mit einem Unbekannten sehen die Menschen in größter Erregung entgegen. Die Menschen kontrollieren in Autospiegeln und Schaufenstern ihre Haare. Sie haben Parfüm aufgelegt. Ihre Hände sind feucht. Die Person, die sie nie getroffen, nie gesehen haben, stellen sie sich als die schönste, feinfühligste, begehrenswerteste vor. Als den Erhofften.
Die Menschen gehen mit ihrer Hoffnung aus dem Haus, ohne es zu merken. Erst wenn die Hoffnung ihnen sauer wird am Ende des Tages, spüren sie sie als Schmerz. Die Hoffnung wird schwer wie eine Eisenkugel. Manchmal spüren sie das Gewicht der Hoffnung schon an der ersten Straßenecke.
Sie schämen sich ihrer Angst, die sie ihre Eitelkeit nennen. Der Blicke in alle Spiegel, aus allen Spiegeln heraus. Der geschürzten Lippen, gewölbten Brust, entblößten Haut. Doch was, wenn der Erhoffte eben jetzt erschiene? Wenn er sie nicht erkennte? Wenn er vorüberginge? Die Menschen lassen die Brille im Etui. Sie suchen einen Spiegel. Sie kontrollieren ihr Gesicht. Es ist ein kontrolliertes Gesicht. Ihre Hoffnung nimmt ihnen die Würde.
In früheren Zeiten konnten Menschen nicht lieben, weil sie sich gegen die Liebe verschlossen hatten. Die freien Menschen aber können nicht lieben, weil sie sich der Liebe zu sehr öffnen , das heißt: der Liebeshoffnung, der Liebeserwartung. Sie resignieren nicht, sondern sie leiden unter zuviel Hoffnung.
Sie haben einmal in einem Buch gelesen: »Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.« Sie haben es gelernt, gründlich sogar. Die Welt ist ihr Lehrer gewesen. Doch wie verlernt man das Hoffen wieder? Wie wird man die Hoffnung wieder los?
Sie ist gewachsen mit der Zeit. In jungen Jahren konnten die Menschen mit jemandem zusammen sein, den sie nicht [70] liebten, ohne jeden Augenblick auf einen Anderen zu hoffen. Sie nahmen ihre Nichtliebe hin. Sie litten nicht, sie langweilten sich nur. Sie ließen sich von jemandem wählen und revoltierten nicht. Sie waren für die Hoffnung noch zu jung. Denn die Hoffnung erfordert Erfahrung und ein Bewusstsein der Zeit. Jetzt hoffen die Menschen jeden Tag auf den nächsten, jede Stunde auf die nächste, Augenblick um Augenblick.
Die Menschen haben ihre besonderen Hoffnungsorte. Wie die Jäger ihre guten Plätze. Dort erwarten sie den Erhofften mehr als irgendwo sonst. Dort geben sie jedem Blickfang unbegrenzt Kredit. Es sind auch die Orte ihrer anderen Hoffnungen, ihrer Arbeitshoffnung, ihrer Entwicklungshoffnung. Orte, an denen sich viele Menschen mit den gleichen Hoffnungen begegnen.
Überhaupt hoffen die Menschen am meisten auf die Liebe in der Öffentlichkeit, nicht mehr im Privaten. Sie liegen nicht in Kissen vergraben, wenn die Hoffnung sie trifft, sondern laufen über einen Platz, überqueren eine Brücke.
Ganze Städte werden den Menschen zu Hoffnungsorten. Großstädte, Weltstädte, Städte der Welt. Die freien Menschen sind Reisende. Im Namen der Städte hören sie schon den Namen des Erhofften. Krank vor Hoffnung steigen sie aus dem Flugzeug. Wie im Fieber gehen sie durch die Straßen. Werden sie den Erhofften finden? Hier? Jetzt?
Oder sie haben bereits von ihm gehört. Haben ihn erkannt vom Hörensagen. Ein Freund hat von ein paar Eigenheiten des Anderen berichtet, eine Anekdote erzählt, ein Lob ausgesprochen. Es hat gereicht. Die Augen der Menschen leuchten. Die Sonne passt auf einen Taschenspiegel.
Vielleicht lebt der Unbekannte auch in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent. Den Menschen ist kein Weg zu weit. Sie sind sich sicher. Sie kaufen ein Ticket, machen [71] sich auf die Reise. Doch die Menschen kommen nie an. Ihre Hoffnung ist zu groß. Sie geht über jeden anderen Menschen hinaus.
Die Menschen wüten gegen jeden, der das Ende
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