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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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ihrer Hoffnung sein soll. Sie sagen: »Nein, der ist es nicht!«, und hoffen wieder.
    Die freien Menschen zeichnen sich aus durch Nostalgie. Sie denken jeden Tag an die, die sie einst besessen haben. An die Momente des Glücks, das schmerzliche Ende. Von jeder Liebe bewahren sie ein solches Doppelbild aus Glück und Schmerz, hell und dunkel. Das macht es ihnen leicht, sich zu erinnern.
    Sie sehen alte Fotos an, lesen alte Briefe.
    Die Liebe, die die Menschen sich erhoffen, soll die Liebe sein, die sie in der Vergangenheit empfunden haben. Ihr Begehren soll das vergangene Begehren sein. Der Erhoffte soll etwas von allen Menschen haben, die die Menschen begehrt und besessen haben. Es sind nicht wenige gewesen. Wie viele? Die Menschen drehen die Augen zur Decke. Sie zählen.
    Die Menschen hören nicht auf, die, die sie einmal geküsst haben, zu küssen. Sie hören nicht auf, die, die sie einmal berührt haben, zu berühren. Sie schlafen mit denen, mit denen sie einmal geschlafen haben, immer wieder. Sie haben mit dem Anderen vielleicht nur eine Nacht verbracht, ein paar Tage. Doch jetzt sind es schon Jahre, die die Menschen diese Tage wiederholen, einen Kuss, eine Berührung, eine Nacht. Momente reichen für Jahrzehnte. Die Menschen schenken denen, die sie einmal geliebt, einmal begehrt haben, das ewige Leben, ewige Liebe. Sie vergessen sie nicht.
    Jede Nacht durchwandern die Menschen den Harem ihrer Vergangenheit. Sie ersetzen Abschied durch Fantasie, Trauer durch Masturbation. Jede Nacht sammeln sie die Gewesenen zur Geisterstunde. Auch die, die sie nie geliebt haben – jetzt [72] lieben sie sie. Jetzt in der Erinnerung. Da die anderen Menschen verloren sind. Tote. Nie waren sie so lebendig.
    Darum sind die freien Menschen alt, ab Mitte zwanzig Greise. Gebeugt und lebensmüde. Überlebende, Überlebte. Sie haben zu viel verloren und gelitten, sind zu oft gescheitert, um noch einmal zu beginnen. Sie hatten zu viel Glück, um ein Neues wert zu schätzen, zu viele Höhepunkte, um noch höher zu gelangen.
    Ihre Geschichte ist lang. Schwer wie ein Mantel aus Blei. Sie sahen sich als Maler, die die Leinwand ihres Lebens immer wieder übermalten. Doch es stellte sich heraus, dass das Leben eine Steinplatte war, ihr Pinsel ein Meißel. Was als Skizze gedacht war, erster Entwurf, reine Fingerübung, ist tief eingegraben. Auf der Platte ist kaum noch Platz.
    Keine Liebe kann die erste überdecken. Die Menschen blicken in ein Gewirr sich überschneidender Formen.
    Ja, die Menschen haben geliebt. Sie waren, wie man sagt, fähig zu lieben. Sie hatten ihre schicksalhaften Begegnungen. Ohne Willkür, ohne Zweifel. Das große Finden, Wiederfinden.
    »Wir waren noch zu jung«, sagen die Menschen. »Wir konnten die Liebe nicht bewahren.« Die Menschen haben einander »aus den Augen verloren«. – »Der Kontakt riss irgendwie ab.« In jeder Beziehung dachte einer, dass noch viele Lieben kämen; dass man sich das Leiden sparen könne. Einer sagte: »Die Entfernung ist zu groß.« Oder: »Ich kann nicht solange warten.« Oder: »Das muss ich mir nicht bieten lassen.«
    Die Geliebten waren ehrlich: »Du hast verloren, was ich an dir geliebt habe. Ich habe mich in dir getäuscht. Ich liebe einen Anderen.« Die Geliebten waren selber freie Menschen.
    Die Menschen sagten: »Man muss nach vorne sehen. Man muss Erfahrungen machen. Es ist ein Lernprozess. Das Leben [73] liegt noch vor mir.« Sie sagten: »Normale und gesunde Menschen verarbeiten ihre Verluste.« Doch die Menschen verarbeiteten nichts. Sie sahen nach vorn, aber immer auch zurück. Jeder Blick in die Zukunft wendete sich zum Rückblick. Eine Erfahrung war schon eine zuviel. Die freien Menschen lieben nicht mehr, weil sie nicht aufhören können zu lieben. Sie sind erstaunt über ihre Endlichkeit, ihre fehlende Kapazität und Flexibilität. Schon die Zahl Zwei war ihnen zu groß.
    Erste Liebe? Letzte Liebe.
    In einem leuchtend roten Buch lesen die freien Menschen: »Menschen – ob jung oder alt –, die einen geliebten Partner verlieren, haben oft ein distanziertes Verhältnis zur Liebe, weil sich ihrer Meinung nach niemand mit dem Verstorbenen messen kann. Bei einem neuen Partner sehen sie nur dessen Fehler, denn alles, was anders an ihm ist, erinnert sie an das, was sie verloren haben, und ärgert sie. Sobald sie aber bereit sind, ihr Herz zu öffnen, erkennen sie oft, dass ihr gegenwärtiger Partner im Grunde viel besser ist als der frühere.«
    Ja, die freien Menschen

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