Das Ende der Liebe
von meinem Gedächtnis tyrannisiert. Tatsächlich sehe ich heute viel mehr als früher. Das Gedächtnis vergrößert alles in einer furchtbaren Weise. Als ich noch sehen konnte, sah ich tatsächlich nur sehr wenig. Seit ich nicht mehr sehen kann, sehe ich furchtbar viel. Früher sorgte der Fluss des Bedeutungslosen vor meinen Augen dafür, dass sich nicht zuviel Bedeutendes ablagern konnte. Jetzt, im stehenden Gewässer meines Kopfes, gibt es nichts Bedeutungsloses mehr, keinen Fluss, nur das Bedeutende, die großen Bilder, die Bilder des Größten.
Ich bin blind, das heißt: Ich sehe zuviel. Und: Ich kann die Augen nicht schließen.«
Alle Menschen erblinden mit der Zeit. Die meisten noch vor dreißig. Sie sehen kaum noch Neues, werden tyrannisiert von ihrem Gedächtnis. Ihr Kopf ist ein stehendes Gewässer, in dem monströse Karpfen kreisen – die unbegrenzten Möglichkeiten.
Die freien Menschen machen keinen Unterschied mehr zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie für möglich halten. Alle Menschen, die sie sehen, nehmen sie als Partnermöglichkeiten wahr. Dabei haben sie keineswegs Schwierigkeiten, zwischen Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie wissen sehr wohl, dass der Mensch, den sie auf einem Zeitungsfoto erblicken, ihnen nicht gegenüber sitzt. Doch sie denken, er könnte ihnen bald gegenüber sitzen. Das Bild ist für sie keine Wirklichkeit, aber eine Möglichkeit.
Die Klassenspaltung in jene, die auf Bildern zu sehen sind, und jene, die nicht auf Bildern zu sehen, ist aufgehoben. Die Menschen denken: »Jeder kann auf ein Bild gelangen; also kann auch jeder, der auf einem Bild ist, in meine Wirklichkeit gelangen.«
[109] Sie wissen auch, dass der Mensch, der einen Meter entfernt an ihnen vorübergeht, nicht durch ihr Leben geht, sondern durch sein eigenes. Doch sie denken, er könnte bald auch durch ihr Leben gehen. Jeder Anblick ist für sie eine Möglichkeit.
Was man sehen kann, kann man also auch sein, haben, tun. Das Sehen überwindet keine Entfernungen mehr, denn es existieren keine Entfernungen mehr. Das Sehen ist zum Tastsinn geworden. Es erreicht nur noch Naheliegendes, weil alles nahe liegend ist.
An die Stelle von Romanen, die Vergleichsmöglichkeiten zur eigenen Wirklichkeit boten, sind Medien getreten, die die Menschen umgeben wie eine Landschaft. Allseitig und jederzeit. Die Medien sind die Natur dieser Tage. Die Wälder der freien Menschen sind Zeitungen, ihre Flüsse Fernsehkanäle, die Heimat, die sie durchwandern, das Internet.
Mehrere Stunden täglich Romane zu lesen, galt als Exzess. Mehrere Stunden täglich Zeitung zu lesen und fernzusehen, gilt als gewöhnlich. Die Medien lassen keine Lücke mehr in Zeit und Raum, sie sind die Wirklichkeit . Die Unendlichkeit möglicher Partner ist eine Unendlichkeit in den Medien, also der Wirklichkeit.
Die freien Menschen finden sich oft mit einem Berühmten im selben Raum wieder. Es ist eine Nähe wie im Kino, zwischen Sessel und Leinwand. Doch zugleich ist der Andere zum Greifen nah.
Denn die freien Menschen könnten ja selbst berühmt werden und morgen den Anderen ansprechen wie einen Freund. Sie greifen nach dem Ruhm wie nach einer Kaffeetasse. Sie können den Berühmten sogar heute schon ansprechen, auch das ist möglich. Sie können ihn heute schon lieben und von [110] ihm geliebt werden. Gewöhnliche Menschen werden jetzt berühmt – und Berühmte sind jetzt gewöhnliche Menschen. Also lieben sie auch gewöhnliche Menschen.
Die Menschen wissen nicht mehr, ob sie einen Berühmten nur sehen oder ihm begegnen, weil sie ihm ja begegnen könnten , weil sie selbst berühmt werden könnten, dem Berühmten als Berühmte begegnen.
Ein Mann berichtet einem Freund: »Ich habe neulich diesen Berühmten getroffen, im Café.«
Der Freund staunt. »Ich wusste gar nicht, dass du diesen Berühmten kennst«.
»Ich kenne ihn ja auch nicht.«
»Aber du sagst doch, du hättest ihn getroffen.«
»Ja, gesehen. Getroffen. Gesehen .«
Selbst noch dort, wo die Bilder erfunden sind, in der Werbung und im Film, sind sie nur eine Wiederholung der – unendlich gewordenen – Wirklichkeit. Die Massen der Schönen sind ja echt, sie sind überall, auf der Straße, in Diskos und Büros, im Internet. Sie zeigen sich und sind zu haben. Sie sehen aus wie in der Werbung , sie sind schön wie im Film . Es sind so viele wie in einem Videoclip. Wenn die Menschen der Werbung, dem Film keinen Glauben schenken wollten, dürften sie der Wirklichkeit nicht
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