Das Ende der Liebe
werden von ihren Möglichkeiten zur Möglichkeit gemacht .
Also erscheint den Menschen nichts dringlicher, als sich aus dem Fischbauch des Gewählt- und Gefundenwordenseins wieder zu befreien, aus den fremden Träumen und Plänen. Die freien Menschen müssen sich aus dem Körper des Anderen befreien (und sei es mit dem Messer), wie sie den Anderen augenblicklich aus ihrem Körper entfernen müssen – durch Erbrechen.
Da jeder Gesuchte selbst ein Suchender ist, fragen die Menschen sich permanent: »Bin ich gut genug, um von meinen Gesuchten auch gefunden zu werden?« So entsteht aus der Suche der Wunsch nach Selbstverbesserung – also der Selbsthass. Denn wenn der Gesuchte der Beste ist, ein Unendlicher, so müssten auch die freien Menschen selbst die Besten sein, Unendliche. Die Menschen werden selbst zum Instrument ihrer Suche – und sind also mit sich selbst nie zufrieden.
Der Heilige Gral ist nun nicht mehr das Ziel, sondern Mittel der Suche: eine Schönheit, eine Fitness, Erfolge, eine Berühmtheit, Wissen und Bildung, eine reife Persönlichkeit – die die Menschen sich noch erarbeiten müssen. Dann, so ihre Hoffnung, werde das Finden, also Gefundenwerden , sich von allein ergeben.
Derselbe Prozess, der die Auswahl endlos verbessern soll, führt also notwendig zu einer endlosen Verschlechterung der Selbstbewertung, zum Selbsthass. Die Unendlichkeit der möglichen Partner ist den Menschen nicht unmittelbar zugänglich, sondern wirft, wie das verspiegelte Fenster einer Limousine, den Blick zurück auf den Betrachter. Die Benutzeroberfläche der Unendlichkeit ist ein Spiegel – in dem die Menschen sehen, wie klein sie sind.
[148] Zugleich sehen sie, dass sie in den Spiegel sehen. Also werfen sich die Menschen, deren Partnersuche zu einem Wunsch permanenter Selbstverbesserung führt – einem permanenten Blick in den Spiegel –, Narzissmus vor. Sie sagen: »Ich beschäftige mich dauernd mit mir selbst. Ich bin narzisstisch. Meine erste, wichtigste Selbstverbesserung muss sein, dass ich meinen Narzissmus überwinde. Ich hasse mich selbst für meinen Narzissmus.«
So führt das Bewusstsein davon, sich selbst verbessern zu wollen, zu einer weiteren Verschlechterung der Selbstbewertung.
Eine weitere Erniedrigung, die in den Selbsthass führt, besteht darin, dass die Unendlichkeit die Menschen passiv macht. Die freien Menschen können nicht mehr in die Welt ziehen, um ihre Liebesmöglichkeiten zu erfahren, denn die Möglichkeiten ziehen ja an ihnen vorbei: auf der Straße, in der unendlichen Stadt, in den Industriegebieten der Liebe. Die Welt durchströmt jeden Ort, an dem sie sind. Also wird ihre Suche von einer Aktivität zu einer Passivität. Lange bevor die Menschen von einer Möglichkeit, einem Partner, zum Objekt gemacht, überwältigt und gefressen werden, werden sie von der Unendlichkeit möglicher Partner zum Objekt gemacht, zu einem Passiven, der immer nur hoffen und abwarten kann.
Selbst wenn die Menschen – wie so oft – den Ort wechseln, wenn sie reisen, von einer Stadt in die andere ziehen, von einer Bar in die nächste, bewegen sie sich nicht mehr von A nach B, sondern bleiben immer im großen A, in der verflüssigten Welt, der Unendlichkeit. Alle ihre Bewegungen sind Pseudo-Bewegungen.
Im Zeitalter der totalen Mobilität wird jede Bewegung unmöglich. Unmöglich wird die Bewegung des Einzelnen, wo [149] alle sich bewegen. Wo alle kreisen, treiben, passieren, kann der Einzelne keine große, entschlossene Bewegung mehr machen, auf ein Ziel hin. Denn sein Ziel – die Masse der möglichen Partner – bewegt sich, es hat sich aufgelöst in unendlich viele Teile, ist flüssig geworden, umgibt ihn von allen Seiten. Das Ziel ist immer schon da, wo der Mensch ist.
Die Menschen sitzen also, warten und hoffen auf den Gesuchten. Sie sitzen an ihren Hoffnungsorten, vor ihren Hoffnungsgeräten. Sie sitzen im Café und schauen in den Strom der Passanten. Sie sitzen im Büro und blicken in den Strom der Kollegen. Sie sitzen am Rand einer Tanzfläche und blicken in die Masse der Tanzenden. Sie sitzen vor dem Computer, blicken auf die Masse der Profile. Wenn die Welt beweglich wird, wird jeder Ort zum Wegesrand, an dem die Menschen nur noch sitzen und abwarten können. So lange wie möglich. Wer sich bewegt, hat Angst, zu früh gegangen zu sein. Wer sich ausloggt, hat Angst, sich zu früh ausgeloggt zu haben. Die freien Menschen dürfen sich nicht mehr vom Platz rühren. Sie müssen abwarten. Sie sind
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