Das Ende der Liebe
gefangen an ihren Hoffnungsorten, gekettet an ihre Hoffnungsgeräte.
Die freien Menschen sind von Anfang an allem Tätigsein beraubt, in den Ruhestand versetzt von einer beweglichen, verflüssigten Welt. Wie der Greis dem Treiben der Jungen zuschauen muss, so müssen die freien Menschen dem Treiben der Welt zuschauen. Die Welt der unendlichen Möglichkeiten gleicht der Terrasse eines Altenheims. Der Blick ist fantastisch, aber die Beine versagen. Die freien Menschen können unendlich viel sehen, aber sie müssen sitzen bleiben.
Zwei Menschen sitzen in einem Internetcafé. Auf dem Schirm vor ihnen ist der Spruch einer Webseite zu lesen: »Speeddating vom Sofa aus erleben!« Tatsächlich sitzen die beiden auf einem Sofa, das Café ist eingerichtet wie ein Wohnzimmer. [150] Nach einer Weile sagt einer der beiden: »Komm, wir gehen!«
Darauf der Andere: »Wir können nicht.«
Der Eine: »Warum nicht?«
Der Andere: »Wir sollten noch abwarten. Vielleicht ergibt sich noch etwas.«
Die Menschen, die die Liebe als Ergebnis ihres Handelns erfahren wollen, ihres Suchens und Wählens, ihrer Selbstentwicklung und Selbstrealisierung – sie sind bitter, weil sie jeden möglichen Partner nur als willkürlichen Endpunkt eines passiven Wartens erfahren. Einst warteten die Menschen auf den Erlöser – die freien Menschen aber wollen nicht mehr warten, sondern handeln; und doch sind sie zum Warten verdammt. Also erscheint ihnen jeder Partner als Ausdruck ihrer Passivität. Sie sagen: »Ich saß da, und plötzlich kam dieser Mensch vorbei, er trat aus den strömenden Massen hervor.« Der Andere ist tatsächlich niemals ein Gesuchter und Gefundener, sondern immer ein plötzlich Angeschwemmter. Wenn Godot plötzlich erscheint, wird er mit der Wut jener empfangen, die zu ewigem Warten verurteilt waren.
Die Liebessuchenden werden also zu Süchtigen, deren Verlangen sich nicht mehr auf die möglichen Partner richtet, sondern auf die Suche selbst; sie werden zu Tatmenschen, die zur Passivität verdammt sind; sie glauben, sich selbst – als Instrumente ihrer Suche – permanent verbessern zu müssen, und sie hassen sich selbst dafür; sie verleiben sich jeden Anderen ein und erbrechen ihn wieder; sie fühlen sich von jedem Anderen verschlungen und schlitzen ihm den Fischbauch auf. Die freien Menschen, die durch ihre Suche ihre Welt verändern wollen, werden vor allem selbst durch ihre Suche verändert.
[151] Die Menschen, die fortwährend einer Unendlichkeit von Möglichkeiten ausgesetzt sind, verändern sich mit der Zeit – wie Menschen, die fortwährend der Schwerelosigkeit des Weltalls oder dem Alkohol ausgesetzt sind. Die freien Menschen existieren in der Unendlichkeit wie Astronauten in der Schwerelosigkeit, sie konsumieren permanent Unendlichkeit, wie Alkoholiker permanent Alkohol konsumieren.
Die Organe der freien Menschen verändern sich. Manche wachsen auf groteske Weise, andere verkümmern, bilden sich zurück.
Das Gehirn wächst und schwillt an – von immer neuen, zu keinem Abschluss gelangenden Entscheidungsprozessen, einer permanenten Reflexion, einem permanenten Fantasieren. Die Augen treten hervor, wie gigantische Suchscheinwerfer – in einem ansonsten ausdruckslosen Gesicht. Es kommt zu einer Hypertrophie der Genitalien – die freien Menschen suchen nicht zuletzt mit ihren Geschlechtsorganen. Auch Vergangenheit und Zukunft sind menschliche Organe. Sie liegen nicht außerhalb des Menschen, sondern sind ein Inneres – Erinnerung, Hoffnung. Das Erinnerungsorgan und das Hoffungsorgan der Menschen schwellen auf eine furchtbare Weise an. Der tägliche, pausenlose Konsum von unendlichen Möglichkeiten führt zur einer furchtbaren Vergrößerung des Erinnerungsorgans, einer furchtbaren Vergrößerung des Hoffnungsorgans. Das Herz hat kaum noch Platz zum Schlagen. Das Herz vergrößert sich nicht, es bildet sich zurück. Nur noch ein schwaches Tuckern ist vernehmbar zwischen dem Pumpen des Erinnerungsorgans und dem Pumpen des Hoffnungsorgans. Der Körper: Physis eines immerzu Sitzenden, Wartenden. Krummer Rücken, lahme Beine. Die stete Anspannung der Nerven signalisiert Jugend, die Körperhaltung dagegen einen beschleunigten Alterungsprozess. Alles, was der Wahrnehmung und dem Denken dient: [152] zu groß. Alles, was der Bewegung und dem Handeln dient: zu klein, verkümmert. Hypertrophie aller Geistes-, Seelen- und Sinnesfunktionen, Rückbildung aller lebenspraktischen Funktionen. Erscheinungsbild von seit langem
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