Das Ende der Liebe
Gefangenen.
So also verändern sich die Menschen selbst. Wie aber verändert sich die Wahrnehmung der Anderen , der möglichen Partner?
Jeder Andere wird wahrgenommen als enttäuschend einzigartig . Die Einzigartigkeit, die im Großen verschwunden ist (da aus jeder Schönheit eine Dutzendschönheit, jedem Leben ein Dutzendleben, jedem Trauma ein Dutzendtrauma geworden ist) – sie kehrt im Kleinen wieder. Die Menschen entwickeln eine Über-Empfindlichkeit ausgerechnet gegen das, was den Anderen ausmacht, ihn unterscheidet von der Masse. Das, was ihn unverwechselbar macht, macht die Menschen rasend: ein Leberfleck, seine Lieblingskleider, sein sonderbarer Körper, seine sonderbare Art.
Alle besonderen Kennzeichen weisen den Anderen als Nicht-Masse, Nicht-Unendlichkeit aus, eben als einzigartig, als Einzelnen. Die Empfindung von Einzigartigkeit, die die wichtigste Bedingung romantischer Liebe war, ist für die freien Menschen das Enttäuschendste. Der Leberfleck, die Lieblingskleider sagen: Das ist nur dieser Mensch , nur einer, nicht alle.
Die freien Menschen sind von Großen enttäuscht, nicht weil sie Kleine mögen – sondern weil sie auch Kleine mögen. Sie sind von Kleinen enttäuscht, nicht weil sie Große, sondern weil sie auch Große mögen. Sie sind von den Jungen enttäuscht, weil sie sich auch nach den Alten sehnen. Sie sind von den Alten enttäuscht, weil sie sich auch nach den Jungen sehnen. Sie sehen in jeder Farbe – jeder Augenfarbe, jeder [153] Haarfarbe – alle anderen Farben, die diese Farbe nicht ist. Jede Einzelheit, die Liebende einst liebten, ist für die Menschen der Ausschluss aller anderen Einzelheiten.
Einzigartigkeit ist Hässlichkeit. Umgekehrt stellt sich die Empfindung der Schönheit ein, wenn das Besondere aufs Minimum reduziert ist. Das Schöne ist jetzt das Gemeine, Nicht-Besondere, Verwechselbare. Die Schönen sehen alle gleich aus. Schönheit bedeutet, in einem die Vielen zu sehen, die Unendlichkeit. Der Besitz des Schönen bedeutet den Besitz der Unendlichkeit, zumindest das Gefühl, die Unendlichkeit zu besitzen. Durch das schöne Gesicht blickt der Betrachter auf die Massen der Schönen, alle Schönen, während er durch das Gesicht des sogenannten Häßlichen, also Besonderen und Einzigartigen, nicht blicken kann, es ist undurchsichtig, ein undurchdringlicher, unsymbolischer, hässlicher Monolith.
Doch auch der Schönste offenbart mit der Zeit eine Besonderheit – wird also hässlich. Irgendwann entdecken die Menschen in dem schönen Gesicht eine Einzigartigkeit, und die Schönheit ist perdu. Augenblicklich ist der Schöne nicht mehr alle Schönen, also nicht mehr schön. Er ist nur noch er selbst, ein Einzigartiger, Einzelner, also Häßlicher. Die Masse ist weitergezogen. Sie ist hat dieses Gesicht verlassen wie den Ort eines Festes; wo Schönheit war, ist jetzt eine Leere. Nur ein einziges besonderes Kennzeichen hat die Illusion zerstört.
Die besonderen Kennzeichen jedes Anderen irritieren die Menschen auch deshalb, weil die Menschen permanent von einem zu Liebenden fantasieren – jede Fantasie aber naturgemäß eine sterile Fantasie ist. Der Gesuchte in der Fantasie – wer es auch sei – hat keine Leberflecken, keine Lieblingskleider. Die menschliche Fantasie bringt nur geschliffene Typen hervor, keine Individuen. Der Gesuchte ist eine undeutliche, weichgezeichnete Gestalt ohne besondere Kennzeichen. Er [154] ist nicht verunreinigt mit Einzigartigkeit. Er trägt keine Zeichen von Alter, hat keine Makel, nichts, was ihn besonders macht. Er ist, wie die Statuen der Antike, eine Gestalt mit glatter, steinerner Haut, ohne Poren und Pigmente. Alles an ihm ist ebenmäßig, wohlproportioniert, verwechselbar.
Die freien Menschen, die permanent suchen, also permanent von ihrem Gesuchten fantasieren , haben eine durch und durch sterile Fantasie und müssen also von jeder – naturgemäß unsauberen, besonderen – Wirklichkeit auf das Äußerste irritiert sein. Wer fantasiert, sterilisiert. Die Hypertrophie der Fantasie führt zur Sterilität alles Begehrten. Menschen, die reich an Fantasie sind, haben keine besonders lebendige Fantasie, sondern eine tote , abtötende.
Die freien Menschen als notorische Fantasienverwirklicher können also tatsächlich keine einzige ihrer Fantasien verwirklichen, weil sie in einem fort von der notorisch nichtsterilen Wirklichkeit irritiert sind. Sie sagen: »Der Gesuchte in meiner Fantasie trug aber nicht diese gelben Schuhe. Er kam
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