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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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Hingabe Handeln.
    Sich zu verlieben war einst eine Hingabe an einen plötzlich Erscheinenden, eine höhere Kraft, Ausdruck einer schicksalhaften Begegnung, einer sogenannten Seelenverwandtschaft. Jetzt wird es zu einer Frage des Handelns, der Selbstbeherrschung. Der Partner, der die eigenen Möglichkeiten, die Unendlichkeit nicht symbolisiert, wird zum Zeichen des persönlichen Versagens, zu einem Gegenstand von Scham. Die Menschen trennen sich, weil sie meinen, etwas Besseres finden zu können, das heißt: besser handeln zu müssen . Sogar die Sucht, also der totale Verlust der Selbstkontrolle, ist tatsächlich die größte Selbstbeherrschung: die Ausrichtung des eigenen Handelns auf die totale Suche.
    Die Menschen, die nicht mehr an die Hingabe, sondern an das Handeln glauben, misstrauen naturgemäß dem Zufall. Warum sollte das Beste zufällig geschehen? Tatsächlich wird so der Zufall gar nicht mehr als Zufall gedeutet, sondern als Folge einer Unterlassung, als persönliche Verfehlung. Die freien Menschen sagen: »Mein Leben beruht nur deshalb auf einem Zufall, weil ich nichts getan habe, mein Tun ein Nichts-Tun war. Hätte ich das Richtige getan, würde ich dem Zufall entkommen sein. Hätte ich richtig gesucht, würde mein Partner ein anderer sein.«
    Wenn aus Hingabe Handeln wird, wird jeder gefundene Andere zu einer Eigenschaft des Selbst. Die Menschen sagen: »Dieser Partner ist ein beschämendes Resultat meines Handelns, meines Selbst.«
    Man hat die Idee der Seelenverwandtschaft für eine Idee der Verschmelzung gehalten, die keine Distanz zwischen den Liebenden erlaubt. Tatsächlich jedoch lässt die Seelenverwandtschaft, [143] wie jede Verwandtschaft, eine Distanz zu, sie setzt sie sogar voraus. Sie staunt über die innere Verwandtschaft zweier in der Welt doch getrennt Existierender .
    Wenn dagegen der Andere zur Eigenschaft des Selbst wird, darf er unter Umständen zwar andere Leidenschaften, eine andere Persönlichkeit haben. Doch er wird tatsächlich zu einem Teil des Menschen.
    Seelenverwandtschaft, das heißt: Gleichheit im Entfernten sehen. Der Andere als Eigenschaft des Selbst heißt: Das Entfernte fressen.
    Das Selbst verträgt aber überhaupt keinen Anderen , den es als Eigenschaft zu sich nimmt. Es kann die Gesellschaft eines Anderen ertragen, doch der Verzehr eines Anderen führt stets zum Erbrechen. Denn das Selbst will sich selbst als unbegrenzt verstehen, als Selbst ohne Eigenschaften.
    Kriterien für Bulimia Nervosa sind: Andauernde Beschäftigung mit Essen, unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; Essattacken, bei denen in kurzer Zeit sehr große Mengen an Nahrung konsumiert werden; der Versuch, dem dickmachenden Effekt von Nahrungsmitteln entgegenzusteuern, durch selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Einnahme von Appetitzüglern; die krankhafte Furcht, dick zu werden.
    Die freien Menschen werden zu Bulimikern der Liebe. Menschen, die suchen und wählen müssen, müssen sich selbst wählen. Denn jede Wahl sagt in ihren Augen und in den vorgestellten Augen der Anderen etwas über sie aus. Jede Wahl wirft die Menschen zurück auf sich selbst. Sie beginnen also, über sich nachzudenken. »Was will ich? Also: Wer bin ich?«
    Aus jedem »Jetzt wähle ich« wird also »Jetzt wähle ich «, also »Jetzt wähle ich mich «. Da die freien Menschen alles, was [144] sie umgibt – Stadt, Land, Wohnung, Einrichtung, Kleidung, Beruf, Freunde und Lebensgefährten –, gewählt haben müssen, wird alles, was sie umgibt, zu einem Teil ihrer selbst, ihres Körpers.
    Wenn die freien Menschen auf etwas zeigen, dann zeigen sie auf sich selbst. Sie sagen: »Das ist meine Stadt, meine Wohnung.« Tatsächlich gehören die Stadt, die Wohnung sogar noch mehr zu ihnen als ihre Arme und Beine, denn die haben sie ja nicht gewählt – oder doch: beim Sport, durch Diät, durch Unterlassung von Sport, Unterlassung von Diät.
    Je weiter die freien Menschen sich in die Ferne bewegen, desto näher kommen sie sich selbst. Nichts ist so sehr ihr Eigenes wie die Fremde, denn es ist eine Fremde, die sie gewählt haben. Sie zeigen aus dem Auto auf die Berge, auf das Meer – es sind ihre Berge, ihr Meer. Spanien ist ihr Spanien, New York ihr New York.
    So wird auch der Andere, der Lebensgefährte, zu einem Teil ihrer selbst. Der andere Körper ist mein anderer Körper . Die Menschen schämen sich für den anderen Körper wie für den eigenen – denn er ist ja jetzt

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