Das Ende der Liebe
ihr eigener.
Die freien Menschen haben Übergewicht. Denn sie nehmen um alles Gewählte, jeden Gewählten zu. Sie verabscheuen das. Sie sagen: »Das ist nicht mehr meine Stadt, meine Musik! Das ist nicht meine Kunst! Das sind nicht meine Menschen.« Die freien Menschen ekeln sich vor einer Welt, die ihr Körper ist.
Also hungern sie. Sie wollen nichts mehr zu sich nehmen, niemanden mehr zu sich nehmen. Idealerweise müssten sie, bevor sie einen Anderen wählen, bereits sich selbst gewählt haben. Tatsächlich aber wählen sie immer zuerst einen Anderen und dann sich selbst im Gegensatz zu dem Anderen, über den Anderen hinaus. Sie wählen sich selbst von Trennung zu Trennung, präzisieren sich von Trennung zu Trennung.
[145] Die freien Menschen sind Bulimiker der Liebe, der Städte und Länder, der Berufe, Kleider und Freunde. Sie stopfen alles in sich hinein, würgen es hinunter und – bevor es zu ihrem Körper werden kann – erbrechen sie es wieder. Sie verschlingen New York und erbrechen es. Sie verschlingen einen Menschen und erbrechen ihn. So bleiben sie dünn. So können sie immer weiter essen, immer mehr, alle Möglichkeiten nutzen.
Die unendliche Freiheit führt in eine existenzielle Ess- und Brechsucht. Die Menschen beschäftigen sich andauernd mit der Partnersuche. Sie denken an nichts anderes. Sie empfinden eine unmenschliche Gier. Bei Kontakt kommt es schlagartig zur Einverleibung. Danach wird der Partner erbrochen, der Kontakt abgebrochen. Die krankhafte Furcht, durch einen Menschen zuzunehmen, ihn bald zum Körper zu haben, ist beruhigt. Es folgt eine Zeit der Enthaltsamkeit, der gewählten Einsamkeit. Dann beginnt alles von vorn.
Man stelle sich vor!
Ein Mann steigt aus dem Auto und zeigt auf einen Berg. Er sagt zu seinem Beifahrer, der im Wagen geblieben ist: »Sieh nur, wie schön! Das bin ich!« Der Beifahrer stutzt. »Du? Der Berg?« Darauf sagt der Mann: »Ja, ich, der Berg. Ich habe den Berg im Internet gefunden. Ich habe die Reise gewählt unter vielen. Ich habe das Auto gefahren. Unser Horizont ist meine Silhouette.«
Darauf sagt der Beifahrer: »Dann verstehe ich, warum es dir zu Hause oft so schlecht geht. Du hast auch die Stadt, in der du lebst, unter vielen gewählt, und auch die Menschen, mit denen du lebst. Dir kommt alles so nahe, dass du nur das Fernste verträgst.«
Die freien Menschen fressen aber nicht nur den Anderen, sondern werden auch vom Anderen gefressen. Denn sie finden [146] keine Gesuchten mehr, sondern nur noch Suchende. Der alte Verführer wusste noch, dass er der Suchende war, die Frau die Gesuchte. Jetzt aber suchen auch die Frauen, suchen alle. Kein Mensch weiß mehr, ob er gefunden hat oder gefunden worden ist. Ob er gewählt hat oder gewählt worden ist.
Die freien Menschen wollen aber nicht gefunden, nicht gewählt werden. Sie wollen aber auch keinen gefunden haben, der nur von ihnen gefunden worden ist. Sie wollen keine unselbständigen, passiven (»weiblichen«), sondern freie Menschen lieben. Andererseits wollen sie nicht von freien Menschen geliebt, also gewählt werden.
Das ist das Paradox der absoluten Möglichkeiten: Sie kommen auf die Menschen zu und nehmen ihnen damit die Freiheit, die sie eigentlich bedeuten sollen. Einst haben die Menschen ihre Freiheit gegen Widerstände durchsetzen müssen. Sie mussten die Gunst des Anderen und seiner Familie erringen, Gelegenheiten finden, dem Anderen zu begegnen, mit ihm allein zu sein. Das alles konnte ein Jahr dauern oder mehr. Der Werbende spürte seine Freiheit gerade im Kampf mit der Ordnung, die den Umworbenen vor ihm verschloss.
Absolute Möglichkeiten dagegen sind überwältigend. Die freien Menschen treffen auf keinen Widerstand mehr, nur noch auf Entgegenkommen. Die Türen, die sie öffnen wollen, öffnen sich von selbst, unter ihnen. Es sind Falltüren. Also erfahren sie sich nicht als Freie, sondern als Gefallene, Überwältigte. Sie gehen sofort Beziehungen ein, haben sofort Sex. Sie geben ihrem Begehren nach und fühlen sich anschließend: nachgiebig . Der Verführer ist nun der Verführte.
Seine Möglichkeiten sind zum Leben erwacht. Einst hatte er es mit quasi toten, unbeweglichen Objekten zu tun, die irgendwo darauf warteten, von einem lebendigen Wesen in die Hand genommen und benutzt zu werden. Die freien Menschen dagegen werden selbst in die Hand genommen und [147] benutzt. Ihre Möglichkeiten haben eigene Träume und Pläne, in denen die Menschen sich plötzlich wiederfinden. Sie
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