Das Ende der Liebe
und liest seinen Homer draußen, auf dem Dorfplatz. Kurz: Er ist auf dem Trip. Ein von Ideen Berauschter. Ein Erlösungssüchtiger, der sich der Erlösung nahe sieht.
[224] In diesem Zustand trifft er Lotte. Die besonderen Umstände: eine Einladung zum Tanz (die Werther nur aus Höflichkeit annimmt); ein schwüler Sommerabend und ein nahendes Gewitter; eine Kutschfahrt durch den Wald. Im Wald lebt Lotte mit ihrer Familie in einer Einsiedelei. Auf der Fahrt zu Lottes Haus sprechen die Frauen, mit denen Werther in der Kutsche sitzt, von Lotte als einer Schönheit, in die man sich verlieben könne.
Werther hört kaum zu. Er denkt nicht an Frauen, Liebe, Heirat. Er hat seine Ideen im Kopf. Aber das macht nichts, im Gegenteil. Denn Lotte und die Situation, in der Werther Lotte trifft, sind wie geformt nach seinen Ideen. Alles ist da, Natur, Kinder, Kunst. Werther ist begeistert von »der Gestalt, dem Tone, dem Betragen« dieser Frau. Im Wagen sprechen die Vier über Literatur. Später beobachtet Werther Lotte beim Tanz, sieht, wie sie, als das Gewitter hereinbricht, ein Spiel organisiert, um die anderen, verängstigten Frauen zu beruhigen. Als Werther und Lotte hinaus in den Regen schauen und den Duft der nassen Erde einatmen, sagt Lotte: »Klopstock!« Werther weiß, was sie meint. Es ist Klopstocks Frühlingsfeier , er verehrt das Gedicht selbst, ein Symbol romantischer Natursehnsucht. »Ach, schon rauscht, schon rauscht/ Himmel, und Erde vom gnädigen Regen!«
Auch die freien Menschen waren in ihrer Jugend zu solchen Entdeckungen fähig. Sie suchten keinen Partner, sondern erblickten, in einer neuen Situation, an einem besonderen Ort, einen Menschen. Sie sahen, wie er etwas tat, mit wem er verbunden war, und so begann der Andere, etwas zu verkörpern, zu symbolisieren, was sie selbst ersehnten: Sexualität, Erwachsensein, eine Gemeinschaft, zu der sie gehören, einen Ort, an dem sie leben wollten. Die Frage ist weniger, in wen ein Mensch sich verliebt, sondern wohin er sich verliebt.
[225] In der Jugend ist das sich Verlieben an sich eine Veränderung, ein Erhobenwerden. Einen Geliebten zu haben, ist an sich ein Fortschritt. Jugend ist permanenter Fortschritt, ein Schritt folgt auf den anderen, und immer findet sich einer, der den nächsten Schritt symbolisiert (der der nächste Schritt ist).
Jede Sehnsucht – eine Liebe. Die Sehnsucht nach der ersten Liebe führt zu einer Liebesliebe, die Rock’n’Roll-Sehnsucht zu einer Rock’n’Roll-Liebe, die Auslandssehnsucht zu einer Auslandsliebe, die Parissehnsucht zu einer Parisliebe, die New York-Sehnsucht zu einer New York-Liebe, die Revolutionssehnsucht zu einer Revolutionsliebe, die Kunstsehnsucht zu einer Kunstliebe.
In der Jugend gibt es noch die utopischen Orte, die gelobten Länder, die Inseln der Glückseligkeit. Ein Umzug reicht, in ein besonderes Viertel, eine besondere Stadt, oder bloß fort aus einem Viertel, heraus aus einer Stadt, nur weg, schon wird der Andere, den der Mensch vor Ort oder auf Reisen trifft, zum Symbol dieses Ortes, des Aufbruchs, der Ankunft. Die geografische Mobilität ist noch eins mit der Mobilität der Liebe.
Jugendliche sind Meister im Symbolisieren. Sie sind immer in der Krise, flüchten und finden. Sie sind immer auf dem Trip, von Ideen berauscht. Sie entdecken permanent. Doch sie suchen nicht. Sie wüssten gar nicht, was sie suchen sollten.
Jugendlichen fehlt der Vergleich. Jedes Mal ist ein erstes, absolutes, jeder Mensch ein erster, absoluter. Jeder Geliebte ist das Tor zu einer Welt, flackernde Erscheinung einer Idee. Auch wenn die Erscheinung zittrig ist, krumm und schattenhaft, vermuten sie dahinter etwas Vollkommenes, Reines, Absolutes. Vieles kann der Geliebte sich erlauben, viele Enttäuschungen und Entbehrungen nimmt der Liebende hin, [226] bevor er zweifelt, dass der Andere das Tor ist, Erscheinung seiner Idee. Die Erscheinung kann flackern, tanzen, sich deformieren – sie ist ja nur die Erscheinung von etwas, das dahinter liegt, ein Symbol, das der Liebende auch dann noch erkennt, wenn es verzerrt ist (wie ein Buchstabe, der auch bei äußerster Verzerrung noch erkennbar, lesbar bleibt).
Jugendliche ähneln – wie Werther, wenn er heute lebte – einem Volk, das unentdeckt tief in einem Urwald lebt. Sie gleichen einem Volk, für das noch nicht alles in unüberschaubar großen Zahlen existiert. Sie sind noch abgeschnitten von der unendlichen Welt. Ihr Alltag und ihre Erinnerung sind noch spärlich bevölkert
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